Literatur

10.06. | Buch der Woche

Philippe Djian • Morgengrauen

Diogenes

Philippe Djian
Morgengrauen
Diogenes • 240 Seiten

Das Ende, es ist laut. Doch zuvor geht Philippe Djian subtiler vor, evoziert Fragen, so elementar wie das Boston Light für den Schiffsverkehr. Seine Figuren haben nicht das unschuldige Weiß des ältesten Leuchtturms Amerikas, nicht dessen Erhabenheit. Sie sind besudelt, schuldbeladen. Es sind Menschen gestorben, Joans Eltern – und es werden weitere sterben. Joan ist nicht die Frau, die Kinder bekommt und beschwingt den Haushalt schmeißt. Sie ist um die 30, Single. Ihr Bruder lebt bei ihr, ein seltsamer Kauz, nicht ganz normal. Normal ist hier ohnehin nur das Setting im spießigen New England, im Dunstkreis der ehrwürdigen Harvard University. Philippe Djian entwirft ein oberflächlich beruhigendes Spielzimmer, dessen Wände sich auf den Leser zubewegen. Ihm geht es um Gefühlskälte und Manipulation, um Selbstsucht, die pseudomoralische Rechtfertigung des eigenen Tuns. „Könntest du versuchen, mich anzulächeln, bitte, ich brauche das“ – ein gestörtes Verhältnis zu Echtheit, Wahrhaftigkeit ist allgegenwärtig. Djians Erzählperspektive suggeriert Distanz, doch sie ist so distanziert wie Joans schlüpfrige Kunden, wenn sie zur Sache kommen. Und ihre Hirngespinste sind nicht normal, sie sind abartig, krank. Die Sprache rückt dabei in den Hintergrund, für die Triebbefriedigung ist sie irrelevant. Einmal, ein einziges Mal, blitzt sie wirklich auf: „Die Sonne strahlte, aber das Licht schien durch sie hindurch wie durch einen Geist, ohne einen Schatten hinter ihrem Rücken zu werfen“ – hüten sollte man sich vor den Geistern, die hier wandeln.

Christian Lamping