Literatur

10.02. | Buch der Woche

Kati Naumann • Wo wir Kinder waren

HarperCollins

„Eva musste wach bleiben. Sie nippte an ihrem Kaffee, der längst bitter schmeckte, und sah auf die Uhr. Halb zwei Uhr nachts. Gleich war es so weit.“ „Wo wir Kinder waren“, der neue Roman der studierten Museologin Katrin Naumann, hält gleich zu Beginn die Spannung hoch. Warum Eva wach bleiben musste: Sie bietet in einer Online-Auktion auf eine seltene historische Puppe, die aus der alten Spielzeugfabrik ihrer Familie Langbein stammt. Die Fabrik stand einst im thüringischen Sonneberg, gegründet bereits in der Kaiserzeit. In der Weimarer Republik befand sie sich auf ihrem Höhepunkt, überstand danach den Zweiten Weltkrieg und die deutsch-deutsche Teilung, nur um nach der Wiedervereinigung sang- und klanglos unterzugehen. Eva, Iris und Jan sind ihre Erben. Sie sind es auch, anhand derer Naumann eine clever konstruierte Familiengeschichte entspinnt, die ein ganzes Jahrhundert umspannt und auf zwei zeitlichen Ebenen erzählt wird: Die Kapitel handeln abwechselnd von der Familiengeschichte der Langbeins und ihrer Sonneberger Fabrik, beginnend im Jahr 1910, und gegenwartsnah von Eva und ihren Verwandten, wo die Puppenauktion alte familiäre Spannungen wiederaufleben lässt und Fragen nach Schuld und Verlust, Hoffnung und Neubeginn in den Vordergrund drängt. Sonneberg, wo schon seit dem 17. Jahrhundert Spielzeug hergestellt wurde, sei ihr „Sehnsuchtsort“, sagt Naumann. Sie selbst verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in dem kleinen Städtchen im Sperrgebiet nahe der innerdeutschen Grenze. Man darf annehmen, dass einige der gut recherchierten Details autobiographisch gefärbt sind, ohne in Eva direkt ein Alter Ego der Autorin erkennen zu wollen. Ohnehin verhindert die zweigleisige Erzählkonstruktion, dass die biographische Nähe zu blinder Ostalgie ausarten könnte. So macht die Verbindung aus mitreißender Familiensaga und historischem Zeugnis für eine vergessene Stadt „Wo wir Kinder waren“ zu einem unbedingt empfehlenswerten Lesevergnügen.


Foto: Clementine Künzel

Kati Naumann
Wo wir Kinder waren

HarperCollins, 416 Seiten

Johannes Baumstuhl