Literatur
09.12. | Buch der Woche
Marcus S. Kleiner • Streamland
DroemerMARCUS S. KLEINER
Streamland
Droemer • 304 Seiten
Das Öl der Gegenwart
17. Oktober 2020, Duisburg. Sofort nach dem ersten Klingeln nimmt Marcus S. Kleiner gut gelaunt das Gespräch entgegen. Die Großwetterlage beschert Deutschland ein Herbstwochenende, wie geschaffen, um eine Netflix-Serie zu bingen. Doch Kleiner, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences, mahnt in seinem Buch » Streamland « vor der Macht der Algorithmen der Streaming-Dienste. Seine These: Sie könnten sogar die Demokratie gefährden.
Herr Kleiner, in Ihrem aktuellen Buch
setzen Sie sich als Medienwissenschaftler
kritisch mit modernen Sehgewohnheiten
und deren Inhalten auseinander. Die französische
Schriftstellerin Françoise Sagan sagte über
das Fernsehen des letzten Jahrhunderts: » Das
Fernsehen hat aus dem Kreis der Familie einen
Halbkreis gemacht. « Hat diese Aussage noch
Bestand?
Die Gültigkeit dieser Betrachtung ist mittlerweile
verfallen, da sich die Sehgewohnheiten innerhalb
der Familie radikal verändert haben. Fernsehrituale,
wie etwa die große Familienshow am Samstagabend
um Viertel nach acht, gehören der Vergangenheit
an. Bewegtbilder werden heutzutage
zumeist alleine konsumiert. Viele Kinder besitzen
bereits ein Tablet und schauen dort hinein. Zudem
ist Mobilität ein wichtiges Thema, denn Inhalte
müssen sich meinem persönlichen Bewegungsrhythmus
anpassen. Wenn ich im Zug sitze
und mir etwas anschauen möchte, muss das
möglich sein. Entweder schaut man sich das
Programm der Öffentlich-Rechtlichen über einen
ruckeligen Livestream an, oder es werden bei
Filmen und Serien die Streaming-Dienste wie
beispielsweise Netflix, Amazon Prime Video oder
Apple TV in Anspruch genommen. Im Gegensatz
zum klassischen Fernsehen, das mir vorschreibt,
was ich wann zu sehen bekomme, kann ich bei
Streaming-Diensten überall und jederzeit auf das
zugreifen, was ich sehen will. Das Fernsehen ist
nicht mehr das Fenster zur Welt, sondern in die
Welt hinausgetreten.
Ihre Hauptthese lautet, dass Streaming-Dienste
das Potenzial haben, die Demokratie zu gefährden.
Wie meinen Sie das?
Streaming-Dienste tragen wesentlich zur Selbstentmündigung
und zur Selbstausbeutung bei. Ein
H mündiger Bürger, der die Demokratie stützt
und weiterentwickelt, lässt sich nicht von äußeren
Einflüssen lenken und gründet sein Weltbild
auf der Basis von Informationen und Handlungen,
die er selbst frei bestimmt hat. Die Idee der
Streaming-Dienste ist hingegen, dem Nutzer die
Entscheidungen abzunehmen. Das geschieht
durch einen hochkomplexen Algorithmus, der
das Nutzungsverhalten eines jeden Einzelnen
komplett überwacht und analysiert, um daraus zu
interpretieren, was dieser sehen will, bevor er es
selbst weiß. Paradoxerweise zahlt man für diese
Dienste doppelt: Zum einen durch das Abonnement
und zum anderen mit den eigenen Daten.
Und Daten sind das Öl der Gegenwart.
Inwiefern?
Unterhaltung ist ein ernstes Geschäft. Die Kreativindustrie
ist die viertstärkste Wirtschaftsmacht
in unserer Gesellschaft. Daten sind deshalb
das wichtigste Äquivalent zum Geld, weil jeder
von uns mit seinen Daten Einblicke in das gibt,
was ihn als Menschen auszeichnet: seine Psyche
mit allen Bedürfnissen und Wünschen. Streaming-
Dienste wie Netflix bieten dann vermeintlich
das an, was zu einem passt und filtern auf
diese Weise den Blick auf die Welt. Und da ich
nur das sehe, was mich vermeintlich interessiert,
denke ich gar nicht mehr darüber nach, ob das,
was mir angeboten wird, mich auch tatsächlich
interessiert. Das Empfehlungsmanagement von
Netflix füttert nur die Perspektive, die sie von mir
kennt und intensiviert sie. Das gleicht einer Entmündigung.
Aber wie werden nun aus Serienliebhabern Feinde der Demokratie?
Mich interessieren bei Netflix vor allem die Widersprüche.
Die Plattform versteht sich durchaus
als ein diskursorientiertes Medium mit einem politik- und gesellschaftskritischen Programm,
dessen Serien meinungsstarke
Bürger hervorbringen sollen. Doch
was bleibt von einer Serie wie »House
Of Cards« übrig? Die Politiklandschaft
ist korrupt, machtversessen
und geht sogar über Leichen. Es wird
ein negatives Politikbild vermittelt,
das im Endeffekt nur Stereotype zeigt.
Deutlich wird das auch bei einer Serie
wie »Pandemie«. Netflix suggeriert
dem Zuschauer, Wissenswertes über
Viren vermitteln zu wollen. Doch diese
Dramaserie, die eine diffuse Bedrohungslage
skizziert, versetzt uns
nur in eine permanente Angstbereitschaft.
Über Viren erfährt man hier
rein gar nichts. Netflix gibt also nach
außen vor, man interessiere sich persönlich
für seine Abonnenten, stattdessen
werden die Leute in einen unreflektierten
Taumel geschickt. Das
ändert sich auch dann nicht, wenn
die Inhalte sich ändern, solange das
System der algorithmischen Auswertung
bestehen bleibt. Insofern trägt
diese Dialektik von Inhalt und System
zu einer Schwächung der Demokratie
bei.
Wie wirkt die Corona-Pandemie auf
die Popularität der Streaming-
Dienste?
Video-on-Demand-Dienste gehören,
so zynisch das verständlicherweise
jetzt klingen mag, zu den medialen
und ökonomischen Corona-Gewinnern.
Nicht nur im Bereich Unterhaltung.
Zur Zeit des ersten Lockdowns
wurde so viel gestreamt wie nie zuvor.
Dieser Trend wird so schnell auch
nicht abreißen. Filme, Serien und Dokumentationen
sind aus meiner Sicht
eine persönliche Auszeit von der allgegenwärtigen
Krise. Wir brauchen
diese Auszeiten, um uns von der Pandemie
nicht vollkommen in die Knie
zwingen zu lassen. Einschalten, um
abzuschalten und aufzutanken. Wir
können uns dabei selbst vergessen
und audiovisuell treiben lassen, oder
durch die Angst-Unterhaltung, die
uns Streaming-Anbieter mit Blick auf
Horror- oder Katastrophen-Stoffe anbieten,
auch kontrolliert fürchten.
Die Welt geht unter, aber bitte in HD.
Hat sich durch Corona auch das
Nutzungsverhalten verändert?
In der ersten Krisenphase der Pandemie,
als der Lockdown die meisten
Menschen in ihre Wohnungen verbannte,
gab es bei Netflix sogar die
Funktion einer virtuellen Netflix-Party,
die es ermöglichte, gemeinsam mit
Freunden Serien zu sehen, unabhängig davon, wo man sich befand.
Es gibt also noch Formen der positiven
Rezeptionskulissen in der
Gemeinschaft, diese sind aber zu
vernachlässigen. Der vereinzelnde
Moment ergibt sich im Dialog zwischen
mir als Abonnent und dem
Streaming-Dienst selbst. Und das ist
der große Unterschied zum Fernsehen.
Denn kein Medium ist so genau
darin, mein Konsumverhalten zu vermessen
wie ein Streaming-Dienst.
Die TV-Quote wird bekanntermaßen
von der GfK ermittelt, anhand von
rund 5.000 Haushalten. Sind die Algorithmen
von Netflix nicht demokratischer,
da sie die Sehgewohnheiten
eines jeden Einzelnen ermitteln?
Das Messverfahren der Einschaltquote
im Fernsehen verhält sich völlig anders
als bei Algorithmen. Beim GfKMeter
gibt es viel Freiraum hinsichtlich
dessen, was nicht richtig erfasst
wird, wie und wann es erfasst wird.
Zudem finde ich das Messinstrument
hochgradig problematisch, weil darüber
Gelder vergeben werden. Netflix
mit seinen Algorithmen ist umfassender,
wesentlich genauer, aber bei Weitem
nicht demokratischer.
Wieso nicht?
Die Auswertung erfolgt nicht eins zu dann das Ergebnis. Die algorithmische
Auswertung interpretiert mein
Nutzungsverhalten und formt es um
zu individualisierten Empfehlungen.
Und sobald wir über Individualisierung
sprechen, verlassen wir den
Rahmen der Demokratie. Demokratie
macht das Gemeinwohl für alle zum
Ziel; das Ziel der Algorithmen hingegen
ist die Manipulation meines individuellen
Konsums, geleitet von neoliberalen
Interessen. Die Einschaltquotenmessung
beim Fernsehen ist letztlich
genauso undemokratisch, weil sie
meint, durch eine statistische Hochrechnung
vermessen zu können, wie
die Gesellschaft der Fernsehzuschauer
aussieht. Das halte ich für kein überzeugendes
Messinstrumentarium,
denn es geht auch hierbei darum,
Machtverhältnisse klarzustellen und
aufgrund dieser Strukturen Gelder zu
verteilen.
Wenn Streaming-Dienste nun so
demokratiefeindlich sind, müsste
Ihrer Meinung nach die Politik nicht
einschreiten, um zu regulieren?
Ich bin ein Zensurgegner, da Regulierung
letztlich Verbot bedeutet und somit
den Diskurs verhindert. Die Datenauswertung
der Streaming-Dienste
fußt auf der Grundlage des Rechtsstaates,
und mit unserer Einwilligung in
die allgemeinen Geschäftsbedingungen
gewähren wir ihnen Zugang zu
diesen Daten. Ich finde es wichtig, einen
Diskurs anzustoßen, damit die
Politik gemeinsam mit dem Verbraucherschutz
und den Abonnenten in
den Dialog mit den Streaming-Anbietern
tritt, um für mehr Transparenz
im Datengeschehen zu werben. Denn
nur Transparenz schafft eine fundierte
Basis, auf der Entscheidungen getroffen
werden können.
Werden Streaming-Dienste langfristig
Bestand haben?
Streaming-Dienste sind aus unserer
Gesellschaft nicht mehr wegzudenken.
Unternehmen wie Amazon, Disney
oder Apple nutzen ihre Marktmacht
und verstehen ihre Video-Streaming-
Portale als Marketingvehikel, um ihre
Produkte und Erlebniswelten besser
verkaufen zu können. Sie interessieren
sich nicht wirklich für das Streaming,
ihre Kerngeschäfte sind schließlich
ganz andere. Wer hingegen in den
nächsten Jahren Probleme bekommen
wird, ist Netflix, da es bislang keine
lukrativen Zusatzwelten anbietet.
Neil Postman konstatierte in den
80er-Jahren, dass wir uns zu Tode
amüsieren. Sind wir auf dem besten
Weg, ins digitale Delirium abzugleiten
und zu Unterhaltungs-Untoten
zu werden?
Die Schwierigkeit besteht darin, aus
diesem Strom von Gleichheit und
Gleichförmigkeit auszubrechen, um
Bildung zu erfahren und nicht nur
dazusitzen und zu schauen, was mir
vorgesetzt wird. Die Generation der
» Digital Natives « hat eine On-Demand-
Haltung, die ein Ergebnis in
Windeseile erzielen will. Sei es, um
eine Bar in einer fremden Stadt zu finden,
oder das, was der Betreffende als
Nächstes lesen will. Die Antworten
auf diese Fragen findet man vorsortiert
in Empfehlungslisten. Aber wir
können immer noch selbst entscheiden.
Wir haben die Wahl, in einen
Dialog zu treten, mit uns selbst und
der Welt. Wir müssen den Strom
der Fremdbestimmtheit unterbrechen,
ansonsten unterwerfen wir uns den
Vermittlern der Digitalwirtschaft
und des Überwachungskapitalismus.
Wir müssen lernen, Differenzerfahrungen
zuzulassen und Widersprüche
herauszustellen. Nur so können wir
den medialen Strom unterbrechen.
Das kann unangenehm sein, aber wir
können das System nicht von außen
neu gestalten.
FAZIT:
Netflix, Amazon Prime Video
und Co. gelten als innovative
Unterhaltungsplattformen, die
das angestaubte analoge Fernsehen
ins digitale Zeitalter katapultiert
haben. Doch so populär
wie die Streaming-Dienste sind,
so gefährlich können sie auch
werden, warnt Prof. Marcus S.
Kleiner. Ihre Algorithmen führten
in eine Unmündigkeit, die letztlich
die Demokratie schwächen
könnte. In »Streamland« vertritt
der Medienwissenschaftler diese
These ebenso kundig wie leidenschaftlich.
Björn Eenboom