Literatur

08.09. | Buch der Woche

Bae Suah • Weiße Nacht

Suhrkamp

Metaphorische Requisiten

Unter dem Titel „Weiße Nacht“ macht sich die Südkoreanerin Bae Suah mit einem sprachlichen Geflecht aus Hitze und Dunkelheit erstmalig per Roman in Deutschland bekannt.

Die Worte „heiß“ und „dunkel“ beschreiben Zustände, die sich den Lesenden unmittelbar aufs Gemüt – wenn nicht sogar auf die Haut – legen. Kein Problem also, sich spürbar vorzustellen, wie die 28-jährige Ayami auf einem Film aus Schweiß durch die nächtliche Hitze von Seoul gleitet – eine Existenz hinter sich, aber noch viele Identitäten vor sich. Seit Bong Joon Ho mit seinem Film „Parasite“ nicht nur westliche Sehgewohnheiten gesprengt hat, sondern auch die Gepflogenheiten der Trophäen-Vergabe (u.v.a. Oscar für Besten Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch und Bester Internationaler Film), steht südkoreanisches Kulturgut hoch im Kurs. Zu Recht, denn die Masse an Synapsen im Hirn des westlichen Rezipienten, die Bong Joon Ho mit seinem Crossover aus Thriller und Gesellschaftskomödie aktiviert hat, schafft auch Bae Suah mit ihrem Roman „Weiße Nacht“. Aus ihrer verschwitzt verklebten Hyper-Realität des sommerlichen Seoul gibt es ein Entkommen nur via Zeit.

Es ist der Abend der letzten Aufführung in Ayamis kleinem Hörtheater. Am nächsten Morgen werden sie und ihr Vorgesetzter arbeitslos sein. Zum Abschied gönnen sie sich ein gemeinsames Essen in einem Dunkelrestaurant, das immerhin klimatisiert ist – zumindest, bis der Strom ausfällt. Das ist der Moment, ab dem Ayami in vielen Rollen gleichzeitig existiert: Kind, Schauspielerin, Dichtermuse, beste Freundin – und Bae Suah ihre Geschichte im Rückwärtsgang nach vorne erzählt. Denn „weil sie sich an diese gleichzeitige Existenz lebendiger erinnerte als an sich selbst, konnte sie sich an alles andere nicht mehr erinnern.“ Zur besseren Orientierung zwischen den Zeiten, Identitäten und Perspektiven verteilt Bae Suah metaphorische Requisiten wie Joseph Beuys Filz und Fett: es wird viel grobe weiße Baumwolle getragen von Frauen mit pockennarbigen Gesichtern und allerorten stößt man auf namenlose Dichter. Nur einer steht unverrückbar im Hier und Jetzt und schwitzt aus allen Poren: Krimiautor Wolfi aus Deutschland. Für ihn fungiert Ayami in einer weiteren Identität als Dolmetscherin. Lediglich 159 Seiten umfasst „Weiße Nacht“, doch die sind sprachlich so dicht gewebt und von Sebastian Bring so sorgsam übersetzt, dass sich hinter den Worten eine zweite Identität erahnen lässt. Manchmal offenbart sie sich recht unverhohlen, wie etwa beim Gleichnis mit den drei Höhlen des Körpers. Ein weitaus größeres Rätsel aber gibt sie als Busunfall auf, der immer wieder wie aus dem Nichts auftaucht und ebenso schamanische Züge trägt, wie er in der jüngsten südkoreanischen Geschichte verwurzelt ist.

Bae Suah ist selbst eine Grenzgängerin der Kulturen. 1965 in Seoul geboren, studiert sie Chemie und wird dann Beamtin am Flughafen. Die Jahre 2001 und 2002 verbringt sie in Berlin und lernt Deutsch, weswegen sie in der Lage ist, Autoren wie Kafka und Christian Kracht ins Koreanische zu übersetzen. Warum es aber so lange gedauert hat, bis der in ihrer Heimat schon 2013 erschienene Roman „Weiße Nacht“ nun als erster und bisher einziger ins Deutsche übersetzt wurde, bleibt ein Mysterium.

Bae Suah
Weiße Nacht

Suhrkamp, 159 Seiten

Edda Bauer