Musik
06.12. | Album der Woche
Rolf Kühn • Fearless
MPS
Foto: Simone Rethel Heesters
Furchtloser Abschied
Mit »Fearless« erscheint drei Jahre nach seinem Tod das finale Studioalbum des großen Klarinettisten Rolf Kühn.
Im Juni 2022 begab sich Rolf Kühn gemeinsam mit seinem Quartett, bestehend aus Frank Chastenier am Klavier, Lisa Wulff am Kontrabass und Tupac Mantilla am Schlagzeug, für vier Tage in die Berliner Hansa Studios, um ein neues Studioalbum aufzunehmen. Dabei wagte der damals 92-Jährige etwas Neues: Zum ersten Mal komponierte er die Stücke nicht am Klavier, sondern schrieb sie direkt auf – kein »Kontrollinstrument«, wie Kühn es selbst formulierte. Stattdessen notierte er einige Ideen als Eckpfeiler und ließ in den Zwischenräumen musikalische Freiheit und Erkundungen für alle Beteiligten zu.
Rolf Kühn ließ geschehen, erforschte den Moment – das war sein Jazz-Ethos, den er lebte. Er war neugierig, was im Studio spontan entstehen könnte, und gab nur grob die Richtung vor. Wer das nächste Solo spielen würde, ergab sich, indem man auf den anderen hörte und furchtlos war. Mantilla erinnert sich an eine aufregende Atmosphäre im Studio, an einen Kühn, der trotz seines hohen Alters eine kindliche Neugier und eine musikalische Abenteuerlust an den Tag legte.
Kühn war schon Zeit seines Lebens eine Legende, keine Frage. Dennoch spielte er mit seinen Mitmusikern stets auf Augenhöhe, auch wenn ihn mehrere Lebensjahrzehnte von ihnen trennten. Diese Freude am Wechselspiel, am musikalischen Austausch, ist besonders bei den treibenden, freier anmutenden Stücken von »Fearless« deutlich hörbar. Auch getragene, balladeske Momente gibt es auf dem Album: Momente der Introspektion, etwa bei Leonard Bernsteins »Someday« oder Eric Claptons »Tears In Heaven«. Bei Letzterem stellt Kühn mit der Klangfarbe von Septimen dem Pathos ein kleines Fragezeichen entgegen und denkt über neue Wendungen im Song nach. Später, bei der Bridge, verdichtet sich das Klangbild zunehmend, woran auch das mitwirkende Cuareim Quartet großen Anteil hat. Für Frank Chastenier waren es besonders die letzten Töne der Balladen, die ihn berührten: »Wenn Rolf am Ende der Balladen ganz allein die Schlusskadenz spielt, höre ich darin sein ganzes Leben und die komplette Jazzgeschichte, die er in sich trug«, erzählt er. Wie wir heute wissen, ist jene Platte, die wir nun als »Fearless« in den Händen halten können, Kühns Vermächtnis. Er selbst sollte die Veröffentlichung nicht erleben, starb er doch wenige Monate später, am 12. August 2022, im Alter von 92 Jahren.
Rolf Kühn
Fearless
MPS • 6. Dezember
Treibende Grooves, Dissonanzen und ein pulsierendes Wechselspiel machen den Anfang. Bald schon setzen Klavier und Kontrabass aus, Rolf Kühns Klarinette tritt in einen freien Dialog mit Tupac Mantilla. Dass »Fearless« ein Abschiedswerk ist, war nicht geplant, sondern hat sich leider so ergeben – denn Kühn zeigte sich auch mit 92 Jahren als der musikalische Forscher und Abenteurer, der er Zeit seines Lebens war. Einmal noch dürfen wir auf Albumlänge seinen warmen, aber glasklar definierten Klarinettenton hören, der ihm Zeit seines Lebens eine Ausnahmestellung in der Jazzwelt einbrachte. »Fearless« ist mitreißend und hochenergetisch – mit dem einen oder anderen Balladenmoment. Es ist für Kühn nur passend, dass sein letztes Album mit einer Spontankomposition endet – dem Stück »Free Exit«.
Markus Brandstetter