06.06. | Album der Woche: Andy Bell • Ten Crowns

Crown / PIAS

06.06. | Album der Woche - Andy Bell • Ten Crowns
Foto: Sean Black

»Ich bestehe auf die Party!«

Mit »Ten Crowns« veröffentlicht Erasure-Sänger Andy Bell ein Soloalbum mit blendend gelaunten Tracks zwischen Eurodance, Techno und Synthiepop. Eine Gute-Laune-Platte in schwierigen Zeiten – inspiriert von Gottesdiensten und Bells Mutter, die schon früh wusste: In ihrem Sohn steckt ein echter Popstar.

Andy Bell, wie schwierig ist es, bei dieser Nachrichtenlage ein aufmunterndes Album wie »Ten Crowns« zu machen?
Ich habe bereits vor zehn Jahren begonnen, an dieser Platte zu arbeiten. Die Welt war schon damals chaotisch. Mit der Zeit wurde es dann immer seltsamer, schlimmer. Fertiggestellt haben wir das Album schließlich in Nashville, und dieser Ort repräsentiert den Zwiespalt. Man sieht hier beide Seiten, das progressive und kreative Amerika, aber auch das Amerika, das Fortschritte rückabwickeln will. Und mittendrin Kirchen. Sehr viele Kirchen.

Was für ein Verhältnis haben Sie zur Kirche?
Meine Familie war nicht sonderlich religiös, aber ich ging auf eine Domschule, wo es obligatorisch war, einmal im Schuljahr zum Gottesdienst zu gehen. Und ich liebte es, in diesem Gebäude zu sein. Ich liebte den Geruch des Weihrauchs. Liebte die auf der Orgel gespielten Lieder. Nur das, was in der Bibel stand, war für mich Kauderwelsch. Es ergab keinen Sinn. Ich spürte, dass die Kirche den Leuten etwas vorgaukeln will. Texte mit pädagogischem Zeigefinger.

Das waren Märchen ursprünglich auch.
Ich liebe Märchen, weil man aus ihnen etwas lernen kann – aber nicht muss. Man kann auch einfach die Geschichte und ihre Poesie genießen. Die Texte der Bibel sind viel manipulativer, und das habe ich bereits als Kind durchschaut. Aber die Show eines Gottesdienstes ist in gewisser Weise wunderschön. Diese vergoldete Schönheit mit Juwelen und Kutschen – wie bei den Royals

Sie fordern in einem der neuen Songs »Put Your Empathy On Ice«. Das ist ein interessanter Gedanke, weil Empathie in dieser Zeit wichtig ist. Und weil »on ice« zwei Dinge bedeuten kann, im Sinne von »aufs Eis legen« oder eine Art von »cooler Empathie« zu entwickeln.
Ja, die Sache ist ambivalent. Empathie ist für die offene Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Auf der anderen Seite: Könnten wir noch eine einzige gute Party feiern, wenn wir die tatsächlichen Schäden sehen würden, die wir täglich durch unseren Lebensstil, unser Wettrüsten auf dieser Erde anrichten? Ich bestehe aber auch weiterhin auf die Party! Ich will den Menschen ein gutes Gefühl geben, wenn ich singe. Diese spirituelle Ebene meiner Kunst nehme ich sehr ernst, und es ist eine komplexe Aufgabe, sich zu überlegen, wie man diese beiden Seiten zusammenbringen könnte, die Party und die Empathie.

Haben Sie eine Lösung gefunden?
Na ja, ein Anfang wäre es, damit aufzuhören, andere Menschen zu dämonisieren, besonders Flüchtlinge und Obdachlose.

Das Album ist an vielen Stellen autobiografisch geprägt, im Song »Thank You« zitieren Sie Ihre Mutter, die zu Ihnen sagte: »Selbst, wenn du in die Scheiße fällst, wirst du noch nach Rosen riechen.«
Sie hat das wirklich zu mir gesagt, ganz unvermittelt, um mir klarzumachen, dass ich ein Glückskind bin. Viele Jahre später war ich mit einer Freundin in London unterwegs, und sie sagte: »Wenn du mit fünf Pfund startest, hast du am Ende der Nacht mehr Geld in der Tasche und bis trotzdem betrunken.« Gott weiß, wie mir das gelungen ist. Und nein, ich habe meinen Körper nicht verkauft. (lacht) Ich habe einfach häufig sehr viel Glück gehabt. Das gilt auch für meine Begegnung mit Vince Clarke.

Sie hatten eine Anzeige von ihm in einer Zeitschrift gesehen: »Sänger gesucht!« Sie meldeten sich, bekamen den Job, Erasure waren geboren.
Genau, wobei man sein Glück herausfordern muss. Ich habe eben angerufen, habe mich auf das Vorsingen vorbereitet, habe mich richtig ins Zeug gelegt. Dieses Arbeitsethos hat mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben. Sie hatte sechs Kinder, ich bin ihr ältestes, sie war 19, als sie mich bekam. Das Geld war knapp, mein Vater arbeitete viel, abends ging er in den Pub. Was dazu führte, dass ich als Ältester zu meiner Mutter eine besondere Verbindung hatte. Sie erlaubte es mir, länger aufzubleiben. Sie hat mich neue Früchte probieren lassen, zum Beispiel einen Granatapfel. Und wir haben uns internationale Filme angesehen, so habe ich Fremdsprachen gelernt. Sie spürte, dass in mir ein Künstler steckt. In ihr übrigens auch: Sie war eine tolle Malerin. Eine Künstlerinnenkarriere war für sie damals aber ausgeschlossen. Also übernahm ich, ihr Glückskind.


Andy Bell Ten Crowns Cover

Andy Bell
Ten Crowns
Crown / PIAS • 2. Mai

Zehn Stücke, »Ten Crowns«: Andy Bell reiht auf seinem dritten Soloalbum Hit an Hit – zumindest dann, wenn man auf Pop zwischen Eurodance und Techno steht. Bell und sein Co-Autor und Produzent Dave Audé üben sich nicht in Bescheidenheit: Die Platte zielt offensiv auf den Dancefloor. Eine besondere Gaststimme ist auf dem Stück »Heart’s A Liar« zu hören: Andy Bell ist es gelungen, mit Debbie Harry eine seiner Heldinnen ans Mikro zu holen. »Was sie damals mit Blondie machte, war für meine Pop-Sozialisation extrem wichtig, weil sie auf sehr eigene Weise sexy und cool war – und der machohaften und chauvinistischen Musikszene die kalte Schulter zeigte«, sagt Andy Bell. Die große Ausnahme auf dem Album ist der letzte Track »Thank You«, ein Lied wie der Abspann in einem Kinofilm, vorgetragen als autobiografische Ballade. Dieses Stück ist Andy Bells »My Way«.

André Boße


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