Musik

05.11. | Album der Woche

Tori Amos • Ocean To Ocean

Decca · 29. Oktober

Foto: Desmond Murray


Mystik an der Steilküste

Tori Amos verbrachte den Lockdown an ihrem Zweitwohnsitz Cornwall. Für ihr neues Album tauchte sie tief in die Mystik dieses Landstrichs ein.

Was bleibt an Energie übrig, wenn man nicht mehr kann? Wenn man sich am Ende wähnt, ohne Aussicht auf einen Weg hinaus aus der Sackgasse? Tori Amos, Sängerin, Pianistin, Songwriterin, schreibt seit vielen Jahren schmerzhaft konkrete Lieder über solche Ausnahmezustände. Ihr Ziel: Lieder über Zugänge zu schreiben, die sich dann ergeben, wenn eine Persönlichkeit nicht mehr kann –?und offen für Hilfe ist. „Und damit meine ich keine Pillen oder einen doppelten Schuss Tequila“, stellt sie fest. Es fasziniere sie als Künstlerin, wenn jemand eine Tragödie durchgemacht hat und diese Person ihre Trauer verarbeitet. „Darin liegt das Gold“, sagt sie „Es geht darum, gemeinsam im Dreck zu sitzen. Und dort, im Dreck, werde ich dich treffen.“ Entstanden ist „Ocean To Ocean“ in Cornwall, England, wo Tori Amos während der Lockdowns zusammen mit der Kernfamilie lebte, sprich: mit ihrem Mann, ihrer Tochter und deren Ehemann. Nicht verwunderlich also, dass die Platte englisch klingt: Mit Art-Pop-Königin Kate Bush wurde Tori Amos schon häufig verglichen, was nichts daran ändert, dass dieser Vergleich hier besonders zutrifft. Dass ihr Herz auch während ihrer Monate an der englischen Westküste amerikanisch geschlagen hat, zeigen Stücke wie „Swim To New York State“, „Addition Of Light Divided“ oder das Titelstück. Tori Amos findet in diesen Liedern eine Rolle als Entwurzelte, das etwas kitschig geratene Cover untermauert diese Symbolik: Die Künstlerin wirkt hier beinahe wie die geheimnisvolle und überaus mächtige Rote Priesterin Melisandre aus dem Serien-Epos „Game Of Thrones“, fehlt eigentlich nur noch ein Drache, der hinter den Felsen der englischen Küste seine Runden zieht. Auch in den Texten greift Tori Amos auf Mythen zurück, mal spricht sie mit den Bäumen, mal brennt sie Blumen zu Gold. Andere Songs heißen „How Glass Is Made“ oder „Metal Water Wood“; „Devil’s Bane“ handelt vom diabolischen Fluch des Alkohols,?und hier zeigt sich, auf welchem Boden der Trost dieser Songwriterin wächst: Intensiv widmet sie sich Themen wie Vergänglichkeit und Abschied, um am Ende doch Geburtstag zu feiern: „Birthday Baby“ ist eine ausdrucksstarke Gratulation, wobei man feststellen muss, dass zwischen den schönen Melodien allerhand dunkel gestimmte Streicher kommendes Unheil verkünden.

Tori Amos
Ocean To Ocean

Decca – 29. Oktober

Nach einigen eher langweiligen, spröden oder gewollt experimentellen Platten überzeugte Tori Amos schon 2017 mit ihrem Album „Native Invader“. Mit dem neuen Werk bestätigt die Musikerin die Rückkehr zu alter Form: „Ocean To Ocean“ klingt elegant und üppig, schwelgerische Momente werden mit düsteren Harmonien oder trockenen Blues-Übungen konterkariert, eindringliche Stücke wie „Speaking With Trees“ erinnern an die große Klasse ihres Frühwerks, fügen den Amos-Sound eine Spur keltischen Mystizismus hinzu, der Fans von Acts wie Loreena McKennitt gefallen wird.

André Boße