Literatur

05.10. | Buch der Woche

Celeste Ng • Unsere verschwundenen Herzen

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05.10. | Buch der Woche - Celeste Ng • Unsere verschwundenen Herzen

Das Große im Kleinen

Bestseller-Autorin Celeste Ng schreibt mit ihrem neuen Roman eine Dystopie, die ohne Klischees auskommt – und erstaunlich viel mit dem Amerika der Gegenwart gemein hat.

Wann ist eine Dystopie eine gute Dystopie? Wenn sie das Schlechteste vom Schlechten zeigt? Wenn Sie übertreibt, überzeichnet, dramatisch in ihrer Sprache ist? Dystopien wirken meist dann, wenn man sie schon am Horizont unserer echten Welt schimmern sehen kann. Wenn sie weh tun, weil sie fast wahr sind. Zuletzt waren das aus naheliegenden Gründen häufig Geschichten mit gefährlichen Viren oder über die zersetzende Kraft des Internets und sozialer Medien. Die amerikanische Bestseller-Autorin Celeste Ng kommt ohne diese Themen aus. Mit ihrem neuen Roman „Unsre verschwundenen Herzen“, dessen Titel zugegeben mehr nach kitschigem Jugendroman klingt als nach ausgewachsener Dystopie, eröffnet sie ein Amerika, das unter dem PACT steht, dem „Preserving American Culture and Traditions Act“. Das Gesetz soll dazu dienen, amerikanische Kultur und Traditionen zu erhalten. Es entsteht aus einer historischen Krise, die Wirtschaft ist am Boden. Der Sündenbock, der für die missliche Lage herhalten muss, sind asiatischstämmige Menschen. Man nennt sie PAO, „Person of Asian Origin“, viele sind verschwunden. So auch die Mutter des elfjährigen Noah Gardner, der sich lieber Bird nennt und nun mit seinem Vater in einer Studentenwohnung lebt. Bird ist ein Außenseiter, Mitschüler und Lehrer wissen um seine nicht-amerikanische Mutter. In der Schule lernt er, wie wichtig PACT ist, Briefe werden von der Regierung gelesen, Bücher werden zu Klopapier recycelt. Der Nationalismus ist ungehemmt in den USA angekommen.

Ng schreibt daraus eine Heldenreise: Der unschuldige Bird erhält einen mysteriösen Brief, der vermutlich von seiner verschwundenen Mutter stammt. Plötzlich vermehren sich rätselhafte Formen des Protests gegen PACT, immer wieder mit ähnlichen Parolen: „Bringt unsre verschwundenen Herzen zurück! Wo sind unsre verschwundenen Herzen?“ Der Junge findet heraus, dass seine Mutter Margaret Miu vor Jahren ein Gedicht mit dieser Formulierung schrieb und will mehr darüber wissen, will herausfinden, wo sie heute steckt und warum sie ihn und seinen Vater vor ein paar Jahren verlassen hat. Er entdeckt brodelnden Widerstand und kommt seiner Mutter auf die Spur, die im zweiten Teil des Buchs ihre Geschichte von der großen Krise bis hin zur Protestbewegung erzählt. Der Plot ist schwer, rutscht aber nie in überspitztes Drama ab, im Gegenteil: Celeste Ng schreibt sich ruhig und elegant durch die Abgründe ihrer Geschichte, macht Gewalt greifbar, ohne in Superlativen zu ertrinken und ist stellenweise erschreckend nah am echten Amerika. „Unsre verschwundenen Herzen“ ist ein Pageturner nach Ng-Rezept, sozialkritische Themen in perfekten Spannungsbögen, mit Protagonisten, die schnell ans Herz wachsen. Ng schließt damit an ihren Roman „Kleine Feuer überall“ an, der den Alltagsrassismus in einer amerikanischen Kleinstadt seziert und zum Weltbestseller wurde. Das wichtigste Element ihrer Geschichten: Ng erzählt das Große im Kleinen – wie Strukturen auf Einzelne wirken und man trotz allem nicht die Hoffnung begräbt.

Celeste Ng
Unsre verschwundenen Herzen

dtv, 400 Seiten

Elisabeth Krainer