Literatur

05.05. | Buch der Woche

Katharina Döbler • Dein ist das Reich

Claassen

Heimat in der Fremde

Gut recherchiert und spannend fiktionalisiert erzählt Katharina Döbler in „Dein ist das Reich“ von ihren Großeltern auf Gottes Mission in der deutschen Südsee.

Deutsch-Südwestafrika, ja. Kamerun, vielleicht. Aber Samoa oder gar Papua-Neuguinea? Deutsch? Nie gehört! Die deutsche Kolonialgeschichte ist kurz und erst recht nicht glorreich, weswegen sie im Geschichtsunterricht gerne unter den Tisch fallen gelassen wird. Reichskanzler Otto von Bismarck, so heißt es, sei diese ganze Kolonialisiererei, wie sie Großbritannien oder auch Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts mit Volldampf betrieben, zu teuer und zu aufwendig gewesen. Ein Archipel in der Südsee ist trotzdem nach ihm benannt. Einst umschloss es Neu-Pommern und Neu-Mecklenburg, zumindest von 1885 bis 1918. Aber das weiß nur jemand, der sich aktiv um dieses Wissen bemüht, oder der mit den Geschichten der Großeltern über Kopra und Kulau, nächtlichen Trommeln und Tok Pisin aufgewachsen ist. Jemand wie die Autorin Katharina Döbler, deren Großväter in der fränkischen Neuendettelsauer Diakonie zu evangelischen Missionaren ausgebildet wurden, um in Deutsch-Neuguinea Heiden zu bekehren.

Deren Geschichte hat Döbler nach und nach von ihren Großmüttern erfahren. Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In „Dein ist das Reich“ heißen sie Linette und Marie. Die eine ist ein abenteuerlustiges Mädchen, das nach dem Tod ihrer beiden Brüder im ersten Weltkrieg das düstere Deutschland verlässt, um sich im New York der beginnenden 1920er-Jahre eine Existenz als Schneiderin aufzubauen. Die andere, Marie, kommt in Franken als Bauerntochter zur Welt, und abgesehen davon, dass sie gerne und gut Schach spielt, wird sie zur gottesfürchtigen Ehefrau eines der Bauern aus dem Umland erzogen. Keine von beiden hat je geplant, als Missionarsgattin buchstäblich am anderen Ende der Welt zu landen. Aber auch die Lebensentwürfe ihrer späteren Ehemänner Johann und Heiner sehen nie vor, eines Tages dunkelhäutigen Menschen „mit Gemütern wie kleine Kinder“ das christliche Himmelreich zu offenbaren. Den einen treibt eher die Abenteuerlust in die Südsee, den anderen die Aussicht auf ein eigenes Stück Land. Aber brave Kirchgänger sind alle vier von jeher. Linette, Marie, Johann und Heiner hangeln sich eng an den Biografien von Döblers Großeltern entlang, zusammengesetzt aus Gesprächen und Briefen, aufgefüllt mit Dokumenten aus diversen Archiven und fiktiven Gefühlen, die bei aller Exotik der Umgebung immer nachvollziehbar bleiben. Dabei sind es weiß Gott nicht immer gute Gefühle, sind die Vier doch in die Fremde gegangen, um „das Fremde“ auszutreiben. Was aber, wenn die ferne Heimat noch fremder wird? Döbler erzählt die fiktionalisierte Historie ihrer Familie bis ins Jahr 1948. Dabei streift sie Themen wie Emanzipation vs. Patriarchat, christlicher Glaube vs. Naturreligion und Rassismus im Namen Gottes, des Kaisers, des Führers. Aus vier novellenartigen Lebensläufen, die den Aufbruch vier junger Menschen aus der grauen deutschen Tristesse skizzieren, wird ab dem Kapitel „Neue Welt“ ein Abenteuerroman in sattem, lebendigem Technicolor mit Breitbild-Panorama. „Dein ist das Reich“ ist eine knapp 500-seitige Lawine an Geschichte und Geschichten.

Katharina Döbler
Dein ist das Reich

Claassen, 480 Seiten

Edda Bauer