Literatur

05.03. | Buch der Woche

Laura Wiesböck • Digitale Diagnosen

Paul Zsolnay Verlag

05.03. | Buch der Woche - Laura Wiesböck • Digitale Diagnosen

Komplexe Beziehungen gelten heute als toxisch

Laura Wiesböck beantwortet ungern Fragen, die nicht vorwiegend soziologisch sind. Ganz der Botschaft ihres Buches „Digitale Diagnosen“ folgend, sich nicht von vorschnellen Schlüssen im Netz leiten zu lassen, bleibt sie bei ihren Leisten und liefert fundierte Erkenntnisse über Krankheitskult und Optimierungssucht.

Frau Wiesböck, über psychische Erkrankungen hat man bis vor einigen Jahren eher geschwiegen. Heutzutage sind sie in aller Munde und gelten gar als schick. Was ist passiert?

Die Diskussion um psychische Gesundheit ist in bestimmten, besser gestellten Milieus schon seit einiger Zeit beliebt. In der Arbeiterschicht oder in ländlichen Regionen sind öffentliche Diskurse um psychische Erkrankungen nach wie vor tabu. In meinem Buch stelle ich die zusätzliche Frage, warum die Enttabuisierung nun zunehmend auf sozialen Medien populär wird. Der Online-Diskurs um Krankheit und Heilung ist stark von den US-amerikanischen Medien geprägt und transportiert ungefiltert ein Menschenbild, in dem Wohlfahrt im staatlichen System keine Rolle spielt und Gesundheitsversorgung eine individuelle Verantwortlichkeit wird, die Teil einer radikalen wirtschaftlich orientierten Wettbewerbsmentalität ist. Übernommene Begriffe wie Mental Health und Self-Care werden somit zu Etiketten einer Vermischung von klinischen Zuständen und Optimierungsanforderungen.

Wie meinen Sie das?

So wie die Gesundheits-Begriffe heute verwendet werden, geht es primär darum, darauf zu achten, dass die volle Funktions- und Leistungsfähigkeit einer Person, man könnte auch sagen eines wirtschaftlichen Subjekts, aufrechterhalten bleibt und dass hinderliche Gefühlslagen, Erfahrungen oder sonstige mentale Zustände, die nicht neoliberal zuträglich sind, eigenverantwortlich erkannt und korrigiert werden. Man ist dieser Ideologie folgend selbst Schuld daran, dass man nicht glücklich ist, den falschen Partner gewählt hat oder dem falschen Job nachgeht. Um sich von Leistungsdruck zu entlasten, können psychiatrische Diagnosen auf der anderen Seite Freiräume schaffen und den Kapitalismus als Ursache für eine verfallende psychische Gesundheit benennen. Krankhafte Zustände unterliegen aber laufend Aushandlungsprozessen. Es geht um Fragen wie „Was zählt zu einer Erkrankung, was nicht? Wie entwickelt sich ein psychischer Zustand?“ Es gibt wissenschaftlich fundierte Kämpfe für die Anerkennung von Krankheiten, aber auch gegen krankhafte Zuschreibungen. In der heutigen digitalen Diagnostizierung bildet sich diese Komplexität nicht ab. Unhinterfragte Automatismen suggerieren, dass Kapitalismus krank macht, während ich die These vertrete, dass im Kapitalismus Krankheiten verwendet werden, um Dysfunktionalität, Ineffizienz, und Trauer zu entschuldigen. Die Frage ist somit, ob Stimmungstiefs oder andere vorübergehende Gefühlslagen eigentlich nur noch in anerkannten psychiatrischen Kategorien ausgelebt werden können.

Wie kann man geringere Leistungsbereitschaft akzeptabler machen ohne gleich als Antikapitalist zu gelten?

Die Frage, die wir uns stellen sollten, nicht nur in Bezug auf Gesundheit, sondern generell in einer globalisierten Welt ist, welche Form von Menschsein und Zusammenleben gesellschaftlich wünschenswert ist? Viel modernes Leiden entsteht ja erst dadurch, dass sich der eigene Wert in diesem ökonomischen System über sichtbare Leistung und Produktivität definiert, und viele Menschen durch Herkunft oder Umfeld strukturell schon mal benachteiligt sind. Das schafft Leidenszustände, die nicht notwendig wären. Der amerikanisierte Diskurs um Gesundheit ist ja nichts anderes als die Weiterführung der Wachstumsdebatte: Gesundheit als Transformationsgut. Genau wie beim wirtschaftlichen Wachstum ist zu fragen, wie sinnvoll und möglich unbegrenzte Optimierung des Daseins ist.

Wie kann eine Umorientierung der Werte stattfinden?

Mein konkretes Plädoyer ist, dass wir Gefühle und Verletzlichkeit außerhalb von medizinischen Kategorien leben dürfen und eine gesellschaftliche Form anstreben, in der Menschen auch jenseits ihrer ökonomischen Produktivität oder ihrer sichtbaren Leistung einen Wert haben, etwa im zwischenmenschlichen Bereich. Auf Sozialen Medien drehen sich Handlungsempfehlungen meist darum, aus Freundschaften oder sozialen Kontakten das Maximum für sich selbst herauszuholen. Komplexe und ambivalente Beziehungen werden schnell als toxisch klassifiziert und beendet, was uns die Möglichkeit nimmt, ein emotional erfülltes und würdevolles Leben zu führen, denn das besteht auch daraus, zwischenmenschliche Ambivalenzen und Konflikte anzuerkennen. Es scheint ein hohes Bedürfnis zu bestehen, Personen in gut und schlecht einzuteilen und entsprechend auszusortieren. Diesem Bedürfnis nachzugeben, insbesondere in komplexen Zeiten, ist sehr verheißungsvoll, aber für langfristige zwischenmenschliche Beziehungen fatal. Wenn wir so eine Gesellschaftsform und Verhaltensweise weiter etablieren, profitieren nur sehr wenige davon.

Die Popularisierung von psychischen Erkrankungen im Netz wird ja maßgeblich von Influencern befeuert. Wie ordnen Sie deren Funktion ein?

Es gibt durchaus positive Seiten daran, dass Menschen mit Reichweite von ihren eigenen Erfahrungen aus psychischen Krisen oder Erkrankungen berichten und dadurch Nähe und Zugehörigkeit schaffen. Viele psychisch erkrankte Menschen sind einsam und können sich so weniger allein fühlen. Kritisch wird es dann, wenn die eigenen Erfahrungen dazu verwendet werden, weitreichendere medizinische Ratschläge zu geben oder vorschnelle Diagnosen zu stellen.

Haben Sie Beispiele?

Empirisch betrachtet können wir nicht sagen, ob es mehr Erkrankungen gibt als früher. Dazu fehlen uns die Vergleichsdaten. Wenn vor 100 Jahren eine Magd vergewaltigt, dann vom Hof verstoßen wurde und sich am Existenzminimum und alleinerziehend durchschlagen musste, kann man sich vorstellen, dass sie großen klinischen Leidenszuständen ausgesetzt war, für die es in jener Zeit weder Bewusstsein noch Vokabular gab. Formell gesprochen werden solche Diagnosen heute mehr gestellt, aber ob es tatsächlich real in der Bevölkerung mehr Erscheinungen gibt, ist nicht belegbar. In der Sichtbarkeit mentaler Belastungsstörungen gibt es Stimmen, die, wie erwähnt, dem Druck der modernen Leistungsansprüche mehr psychische Belastungen, zuschreiben, während andere sagen, es wird nur mehr diagnostiziert und oftmals unnötig pathologisiert, etwa durch Influencer, die einen krankhaften Blick befördern. Auch Lehrer, die Eltern nahelegen, ob ihr introvertiertes Kind nicht vielleicht autistisch ist, tragen dazu bei. In der Washington Post gab es dazu neulich einen lesenswerten Artikel einer Mutter, die von der Krabbelgruppe ihres Sohnes vermittelt bekam, ob ihr Kind nicht vielleicht mentale Probleme hätte, weil er immer so selbstbezogen sei und nicht mit anderen spiele. Woraufhin die Mutter sich fragte, ob es die Kategorien „introvertiert“ oder „schüchtern“ gar nicht mehr gäbe. Eigentlich ist ein Kind, dass sich gut selbst beschäftigen kann eine tolle Sache, wenn es nicht gleich einer klinischen Deutungsstrategie unterzogen wird. Auf der anderen Seite gibt es auch Eltern, die sich durch eine vermeintliche Diagnose entlasten, weil die Verantwortung für das Verhalten des Kindes auf die Krankheit geschoben werden kann.

Welchen Einfluss nehmen digitale Diagnosen, insbesondere auf Frauen- und Männerrollen?

Viele der Mental Health Themen adressieren vorwiegend Frauen und konterkarieren dadurch den jahrelangen feministischen Kampf gegen vordigitalen Gender-Bias im Vergeben psychiatrischer Diagnosen an Frauen, etwa als Hysterikerinnen. Was früher als paternalistische Zuschreibung von oben angesehen und als systematischer Unterdrückungsmechanismus dechiffriert wurde, ist nun teilweise Grund zur Freude, wenn etwa bei Frauen eine ADHS Diagnose gestellt wird, die ihr dabei helfen kann, die wachsenden Anforderungen in Care-Arbeit und Karriere auszubremsen. Ein Grund dafür ist, dass sich mit Frauen assoziierte psychische Erkrankungen und Gemütszustände leichter romantisieren lassen als Psychopathologie.

Wie sieht es mit Männern aus?

Gesundheitsmarketing, das sich an Männer richtet, dreht sich oft um körperliche und geistige Optimierung, sogenanntes Biohacking. Die eingangs angesprochene, idealisierte Verschiebung der Gesundheitsverantwortung auf den Einzelnen greift bei Männern erfolgreicher und sie werden von daher Ziel politischer Kampagnen für schlankere Gesundheitsversorgungssysteme sein. Ein ganz anderes Thema, das aus meiner Sicht gezielter erforscht werden müsste, ist die wachsende Entschuldigung männlicher Gewalttaten. Gesellschaftliche Zusammenhänge, die hinter Erklärungen wie: „Ich schlage meine Frau, weil ich depressiv bin“ oder „Schizophrener ermordet Sexarbeiterinnen“ stecken, sind daraufhin zu beleuchten, warum bestimmte Gruppen häufiger Opfer werden und was das mit der Toleranz männlichen Fehlverhaltens zu tun hat.

Laura Wiesböck

Digitale Diagnosen

Paul Zsolnay Verlag / 174 Seiten / 22,00€

Miguel Peromingo