Literatur
05.02. | Buch der Woche
Timur Vermes • Briefe von morgen, die wir gern gestern schon gelesen hätten
Eichborn
Die Zukunft ist jetzt
Kein Roman, sondern eine verspielte Collage von Korrespondenzen aller Art, die in der nahen wie fernen Zukunft so stattfinden könnten – und natürlich satirisches Gleichnis unserer Gegenwart sind.
Wir können alle von Glück reden, dass Timur Vermes vor allem durch seinen Mega-Bestseller „Er ist wieder da“ weiterhin zu den Autoren gehört, denen Verlage einen Vertrauensvorschuss geben. Hätte ein weniger erfolgreicher Schriftsteller oder gar ein hochtalentierter Debütant dieses wichtige und originelle Buch in exakt gleicher Form eingereicht – ihm wäre eine Absage aller Publikumsverlage sicher gewesen. Es sei denn, er hätte von irgendwoher Reichweite mitgebracht. Umgekehrt eignen sich diese bösen wie klugen Häppchen sehr gut dazu, nachträglich als einzelne Videos, Reels und Shorts verbreitet zu werden.
Da beschwert sich eine Angehörige darüber, wie die Pflege im Altenheim schlichtweg nicht funktioniert, wenn neben all den KI-gesteuerten Androiden als menschliche Bedienstete nur noch die IT-Experten vor Ort sind, welche die Dinger warten. Da schreibt ein Unternehmensberater einem Bekannten bei der Deutschen Bahn, das Unternehmen ließe sich rein wirtschaftlich durchaus noch retten, wenn es einfach damit aufhören würde, Menschen von A nach B zu transportieren, da dieses Geschäftsfeld die meisten Kosten verursacht und den umfangreichsten Pool für Fehlerquellen darstelle. Wieso nicht einfach nur Bahnhöfe als Orte bewahren, an denen man sich im Optimalfall gerne aufhält, ohne wegzufahren? Die Telekom habe es doch einst vorgemacht und sei mit t-online nun auch nur noch ein lukrativ werbefinanziertes Newsportal.
Das Buch ist ein absoluter Schatz der Ideen, die im Rahmen der dystopischen Zukunftssatire letzten Endes unser Jetzt spiegeln. In einer Bundestagsanhörung beschwert sich der Sprecher des Bundesverbands der deutschen Süßwarenindustrie über ein von der EU verordnetes Plastikverbot, welches seinem Gewerbe das Verpackungsdesign verhagelt. Er fordert „Mikroplastik mit Augenmaß“, denn „andernfalls fressen die Leute wieder irgendwelche Walderdbeeren und ein Süßholz“, da sich die minderwertigen Süßwaren von heute im Grunde nur durch Verpackungsmarketing verkaufen. Sehr witzig auch der Antwortbrief von Alice Weidel an Attila Hildmann, dem sie trotz seiner damaligen Verdienste gegen das „abgelöste Unrechtsregime“ genauso konsequent eine (neue) Einwanderung verweigert, wie den „anatolischen Kuhbauern“, mit denen er in der Behandlung nicht gleichgesetzt werden will. Auch witzig, aber eher klamaukig, gestaltet sich ein Interview-Gesprächsprotokoll mit Gott oder jemandem, der in einem Biergarten behauptet, Gott zu sein, in dem Vermes sein Schaffen (ein Mann ist es immer noch) aufgrund der immensen Größe des Universums von den religiösen Konfessionen und ihren Geboten auf der Erde trennt, seinen Besuch aber am Ende damit erklärt, dass er unbedingt einem Konzert von Taylor Swift beiwohnen möchte.
Vergleichsweise am schwächsten erscheint auf den ersten Blick der Auftakt des Buches, ein Brief des Autors selbst an Friedrich Merz, der zum Thema hat, wie die CDU der AfD den Weg in die Regierung ebnete. Hier schießt die Satire mit Kanonen nicht einmal auf Spatzen, sondern auf Blattläuse, möchte man angesichts der Tatsache meinen, dass sich Friedrich Merz derzeit als oberster Bewacher der Brandmauer geriert. Kaum vergehen allerdings ein paar Tage, geht zur Zeit des Verfassens dieser Buchbesprechung die Nachricht durch den Ticker, dass die ÖVP in Österreich Koalitionsverhandlungen mit dem rechtsnationalen Wahlsieger Herbert Kickl und seiner FPÖ aufnimmt … Was die kurz zuvor noch kategorisch ausgeschlossen hatte.
Timur Vermes
Briefe von morgen, die wir gern gestern schon gelesen hätten
Eichborn / 192 Seiten / 22,00 €
Oliver Uschmann