Musik

04.12. | Album der Woche

Ella Fitzgerald • Ella – The Lost Berlin Tapes

Verve

Foto: Getty Images

ELLA FITZGERALD
Ella – The Lost Berlin Tapes

Verve • 02. Oktober

Vergessen und gefunden

Auffallend im mittlerweile rund 300 Alben umfassenden Katalog von Ella Fitzgerald ist der hohe Anteil an Konzert-Mitschnitten. Überraschend taucht jetzt ein weiterer Mitschnitt auf, von dem niemand ahnte, dass er existierte. Der Sensationsfund ist nicht nur von erstaunlicher Tonqualität, sondern bestätigt den Eindruck, dass Ella Fitzgerald ihre besten Platten live und vor Publikum gemacht hat.

Die Sängerin, die schon zeitlebens nur beim Vornamen genannt wurde, weil der zu einer Marke geworden war, liebte das Spiel und die Interaktion mit dem Publikum. Sie genoss es, auf die Zuhörer zu reagieren, und sie wusste, wie das Auditorium auf sie reagieren würde. Ella Fitzgeralds Karriere begann in den Dreißigern, den letzten Auftritt hatte sie 1991. Zu ihren Hochzeiten gab sie mehr als 100 Konzerte weltweit pro Jahr und verbrachte selten länger als eine Woche zu Hause. Zwischen 1960 und ’62 trat sie dreimal in West-Berlin auf. Zum ersten Mal am 13. Februar 1960 vor 12.000 Besuchern in der Deutschlandhalle. Dort sang sie neben den erwarteten Standards wie »How High The Moon«, »Summertime« »The Lady Is A Tramp« auch die »Moritat von Mackie Messer« aus der Dreigroschenoper von Berthold Brecht. Ausgerechnet in der Stadt, in der das Stück 1928 uraufgeführt worden war und wo Brecht bis 1956 im Ostteil gewirkt hatte.

Das Werk war zwar längst auch am Broadway etabliert, und der Song durch Louis Armstrong und Bobby Darin ebenfalls längst Allgemeingut, aber Ella sang dieses Lied an jenem Abend zum ersten Mal – und hatte einen Texthänger. Spontan improvisierte sie sich in bester Rap-Manier durch den Schlamassel: »Ella and her fellas, we’re making a wreck. What a wreck of Mack, the Knife.« Die Zuhörer waren begeistert. Ihre souveräne Glanzleistung wurde umgehend unter dem Titel »Mack The Knife – Ella in Berlin« auf LP veröffentlicht und brachte ihr im darauffolgenden Jahr zwei Grammys ein. Einen für das Album, einen für den Freestyle von »Mack The Knife«. 1999 wurde der Mitschnitt wegen seiner »historischen Bedeutung« in die Grammy Hall Of Fame aufgenommen. Fast auf den Tag genau ein Jahr später tritt Ella Fitzgerald erneut in Berlin auf. Diesmal dauert es 30 Jahre, bis ein Mitschnitt des Abends unter dem Titel »Ella Returns To Berlin« veröffentlicht wird.

Das dritte Konzert findet am 25. März 1962 im berühmt-berüchtigten Sportpalast statt. Wieder warten mehr als 10.000 Zuschauer auf »Mack The Knife«. »Später« vertröstet Ella die Zwischenrufer – auf Deutsch! – und nimmt sie mit auf einen Scat-Trip durch wilden Swing der »roaring twenties«, wechselt zu todtraurigen Balladen wie »Angel Eyes«, interpretiert »Cry Me A River« als wütende Abrechnung und gönnt dem Publikum »einen Moment Schlaf« mit »Summertime«. Sie singt Billie Holidays »Good Morning Heartache« und, mit variierender Dynamik, zwei Versionen von Ray Charles‘ »Halleluja, I Love Him So«. Einen Monat vor ihrem 45. Geburtstag präsentiert sich Ella in Bestform und spult das abwechslungsreiche Programm mit Leichtigkeit ab.

Sie und das Trio um ihren Lieblingspianisten Paul Smith, gemeinsam mit dem Bassisten Wilfred Middlebrooks und dem Drummer Stan Levey, haben bereits zehn ausverkaufte Konzerte in England und eines in Paris absolviert. Sie sind perfekt eingespielt. Und Ella weiß, was sie Berlin schuldig ist. Doch als sie in eine furiose Version von »Mack The Knife« einsteigt, inklusive »Satchmo«-Einlage und Reminiszenz an das Textdrama von 1960, fällt ihr der Name der Stadt, in der sie sich gerade befindet, partout nicht ein. Jubelnd erteilt ihr das Publikum Absolution. Die Berliner Konzerte liefen unter dem Motto »Jazz at the Philharmonic«, jedes Mal mit Ella als Headliner, denn Norman Granz, der Erfinder des Konzepts, war gleichzeitig ihr Manager. Der weiße Kalifornier (1918-2001) verfolgte das Ziel, den Jazz aus den verruchten Bars und Dancehalls zu holen, wohin ihn die Rassensegregation verbannt hatte, und ihn international auf die Bühnen bürgerlicher Konzertsäle zu bringen. »Ich wollte Rassismus bekämpfen«, sagte Granz, »und habe es mit Jazz getan.« Granz war zudem der Gründer des Labels Verve und hatte sich angewöhnt, nach Möglichkeit jedes Konzert mitzuschneiden, das er veranstaltete. Man hätte sich denken können, dass es auch von dem 62er-Auftritt einen Mitschnitt gab. Da der umtriebige Impresario jedoch mit seinen Gedanken oft schon beim nächsten Projekt war, vergaß er gelegentlich wertvolle Tondokumente. Erst jetzt wurde das noch versiegelte Tape mit den Aufnahmen jenes Konzertes in seinem Privatarchiv gefunden.

Granz hat seine Konzerte stets ohne großen Aufwand mitgeschnitten. Daraus resultierende Klangeinbußen lassen sich aber mittlerweile ausgleichen. Spezialisten wie der mit Grammys dekorierte Gregg Field sowie der schon für Coltranes » Lost Album « verantwortliche Ken Druker haben » Ella – The Lost Berlin Tapes « zu vollem Frequenzvolumen verholfen und Ellas Stimme brillant in den Vordergrund gestellt. Selbst soundtechnisch ist der Mitschnitt eine Offenbarung.

Helmut Philipps