Literatur

04.11. | Buch der Woche

Roman Ehrlich • Malé

S. Fischer

ROMAN EHRLICH
Malé

S. Fischer • 288 Seiten

Senza Speranza

Diese Welt ist hoffnungslos, hoffnungslos überschwemmt. Ihr Meeresspiegel steigt unaufhaltsam. Einstige Inselparadiese entwickeln unheilvolles Eigenleben, isoliert, inmitten des Zerfalls.

Malé realiter im Jahr 2020: Eine Insel nur aus Häusern. Von oben betrachtet scheint kein einziger Quadratzentimeter mehr frei. Der Mensch hat sich hier breitgemacht und seine Tourismusbasis installiert – fast perfekt, die Illusion vom Paradies. Roman Ehrlich hat sich das Monster vorgeknöpft, es vor dem Hintergrund vergewaltigter Natur in ein dystopisches, unnahbares Etwas überführt. Sein Malé wird nach Crashs, Revolten und Vertreibung Rückzugsort für gesellschaftsferne Klientel. Die Bedingungen sind toxisch, selbst in verbliebenen Refugien: »Eine salzige, schwitzig klebrige, alt abgestandene Luft, von der nur der kleinste Teil aus dem zu bestehen scheint, was in die atmenden Lungen wirklich hineingehört.« Ehrlich lässt keine Gnade walten, seine Figuren sterben wie die Fliegen. Was einst gebeugt, gewaltsam transformiert und in sein Gegenteil verkehrt, holt sich zurück, was ihm gehört. Ein festgezurrtes Kreuzfahrtschiff wird Symbol aller Abkehr: Dessen Swimming-Pools beherbergen Fischzuchten, finnische Blocksaunen, zu Räucherkammern umfunktioniert. Und in den Souvenierläden gackern eingepferchte Hühner. Zeitlupenhaft entwirft Ehrlich seine Vision. So kommt sie nah, zu nah vielleicht. Selbstreflexive Passagen lassen wissen: Er ist kein Freund von Klarheit, sondern demonstrativer Überzeugung, dass diese Welt nie zu erklären war, nie sein wird. So zelebriert er zähe Trägheit, verbalisiert hilflose Wiederholung, endlose Aufzählung, grenzenlose Gleichgültigkeit. Schicksale, Charaktere nimmt er auf, verliert sie, ganz bewusst. Keine Perspektive, keine Hoffnung hier – der einzige, der sie noch hegt, ist ein gestrandeter Italiener, er will wieder weg von dieser Insel, der eigentlichen Ausflucht bald entfliehen: »Flavio Gentili wird von der Ansprache der Pilotin im vertrauten Italienisch seiner Herkunftsregion von einem heftigen Heimweh angefallen, das sich ihm wie zwei kalte Finger von hinten in die Nieren bohrt und von dort nach oben wandert, durch die Brust und weiter, den Hals hinauf bis hinter die Augen, bereit, als wohlvertraute Traurigkeit in Tränenform hervorzubrechen.« Seine Emotion verebbt, kaum Widerhall, sie wird verspottet und verlacht. »Senza Speranza«, heißt es nur, ganz ohne Hoffnung. Gentili bleibt, muss bleiben. So wie die flüchtige Essenz: Kein gutes Leben je ohne gesellschaftlichen Halt. Houellebecqs Möglichkeit einer Insel, schon längst mit Nachdruck evoziert – das kalte Leben seiner Neo-Menschen spiegelt sich auf Ehrlichs überflutetem Trottoir: »Wenn kein Wind geht und kein Mensch oder Fahrzeug die ruhige Oberfläche stört, kann eine einzeln an einer Kreuzung stehende Person den Eindruck bekommen, die Häuser der Stadt Malé schwebten frei im All, das sich über und unter ihr im millionenfach leuchtenden Verglühen der Sterne ausbreitet.« Was fehlt, ist jener beißende, aufreizende Humor, die Ironie der französischen Instanz, die punktuell Erleichterung verschafft. Ehrlich beschränkt sich auf die Farbe Schwarz, erschreckt, schreckt ab – und wartet stoisch auf das Ende.

Christian Lamping