04.06. | Buch der Woche: Rachel Kushner • See der Schöpfung
Rowohlt
Agent Provocateur
Undercover unter Umweltaktivisten: Die amerikanische Star-Autorin Rachel Kushner legt mit »See der Schöpfung« einen intelligenten Pageturner um eine Agentin vor, die keine Skrupel zu kennen scheint.
Sommer 2013, im Radio läuft »Get Lucky« von Daft Punk und Sadie Smith kurvt mit einem alten Skoda durch das südwestfranzösische Hinterland. »Smith ist kein Name«, erklärt die Ich-Erzählerin im Roman »See der Schöpfung«. »Es ist ein Platzhalter. Smith ist Angloamerikanisch für ›Nachname‹, was mich praktisch ungooglebar macht, verloren in einem Meer von Smiths.« Seit das FBI sie gefeuert hat, arbeitet die Agentin freiberuflich. Wer sie beauftragt und warum, interessiert die 34-Jährige nicht.
Die Autorin Rachel Kushner ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der USA. Vor zehn Jahren machte sie ihr zweiter Roman »Flammenwerfer« berühmt. Darin gerät eine Motorradrennfahrerin im Manhattan der 1970er-Jahre in eine Spirale aus Gewalt und Kriminalität. Ihr Folgeroman »Ich bin ein Schicksal« handelt von einer Stripperin im kalifornischen Frauengefängnis. Kushners Romane zeichnen ungewöhnliche Frauenfiguren aus, deren Geschichten sie mitreißend und unsentimental, aber sensibel erzählt. Auch in ihrem neuen Roman »See der Schöpfung«, der für den Booker Prize nominiert war, macht sie das meisterhaft. Ihre Hauptfigur, Sadie Smith, soll »Le Moulin« infiltrieren, eine Kommune von Umweltaktivisten im fiktiven französischen Département Guyenne, die Sabotageaktionen gegen Wasserreservoirs für die industrielle Landwirtschaft planen sollen. In der Sommerhitze nähert sich Smith der Gruppe von Aussteigern an, die Quitten anbauen und Geld mit selbst gepresstem Walnussöl verdienen. Offiziell soll Smith die Manifeste der Gruppe übersetzen. Dabei soll sie Unruhe in der Gruppe stiften und Beweise sichern, dass sie eine Bedrohung für nationale Sicherheit darstellt, egal, ob es zutrifft oder nicht. Smith ist eine erstaunlich skrupellose Hauptfigur. Nichts scheint ihr etwas auszumachen, weder der Sex mit dem Kontaktmann, mit dem sie zur Tarnung zusammen ist, noch, dass sie die Gruppe zur Not zu illegalen Handlungen anstiften soll. Smith blickt abgebrüht auf die Welt, in der sie sich bewegt.
Umso erstaunlicher ist ihre Faszination für den Vordenker der »Moulinarden«: Bruno Lacombe, der über 80 ist und in einer Höhle lebt, seit seine Tochter bei einem landwirtschaftlichen Unfall ums Leben gekommen ist. Per E-Mail teilt er seine Weltbetrachtungen mit der Kommune. Den Homo Sapiens versteht er als ausbeuterischen Schwindler und Wurzel allen Übels, den Neandertaler dagegen als besseren Menschen, einen Künstler, der Neues erschaffen hat. Seine Gedanken über den Zustand der Welt sind immer wieder als Passagen eingearbeitet, denn Smith hat längst Zugriff auf seine Nachrichten und liest zunehmend fasziniert mit. Auch Smiths Geschichte entwickelt einen Sog beim Lesen. Zwischendurch schweifen die Gedanken der Ich-Erzählerin ab, nicht immer so unterhaltsam wie bei der Talkshow, in der sie einen berühmten französischen Romanautor beschreibt, vielleicht den einzigen, »der echten Promistatus hatte«. »Michel Thomas« hat verblüffende Ähnlichkeit mit Michel Houellebecq. »Sein zerfranstes Haar sah aus, als hätte es unter einem ultraheißen elektrischen Bügeleisen geklemmt«, kommentiert Smith und attestiert ihm »die sexuelle Energie einer Großmutter mit Knochendichteproblemen«.»See der Schöpfung« ist ein intelligenter Pageturner. Kushner erzählt in sinnlichen Bildern und mit subtiler Spannung bis zum erwarteten Showdown, bei dem sie erneut gekonnt Erwartungen bricht.
Rachel Kushner See der Schöpfung übersetzt von Bettina Abarbanell Rohwolt / 480 Seiten / 26,00€
Kathrin Hollmer