Kino

04.05. | Kinostart der Woche

Das Lehrerzimmer

Alamode Film

04.05. | Kinostart der Woche - Das Lehrerzimmer

Foto: Alamode Film


Obskurer Ort der Macht

Aktion, Reaktion, Überreaktion: In Ilker Çataks eskalierendem Schuldrama »Das Lehrerzimmer« beweist Leonie Benesch als Lehrerin starke Nerven.

Laut Wikipedia gilt die als fehlerfrei anerkannte Herleitung der Richtig- oder Unrichtigkeit einer Aussage in der Mathematik als Beweis. Das weiß natürlich auch Carla Nowak (Leonie Benesch), die neue Mathe- und Sportlehrerin, weswegen sie sich im Zweifel immer auf die Seite der Schwächeren, also der Schüler, stellt. Zum Beispiel als es darum geht, in ihrer 7. Klasse einen Dieb ausfindig zu machen. Den Klassensprechern wird von der Direktorin eine Liste mit Namen vorgelesen, und sie sollen – »natürlich ist das alles ganz freiwillig« – bei dem mutmaßlichen Täter nicken. Carla hält das für Anstiftung zur Denunziation und Spekulation. Eine Meinung, mit der sie sich im Lehrerzimmer nicht gerade beliebt macht. Das Lehrerzimmer, die für Schüler verbotene Zone. Im Mikrokosmos Schule ist es so etwas wie das Epizentrum des Schicksals. Was hier besprochen, erstritten, ausgehandelt und beschlossen wird, schlägt Wellen. Nicht selten höher und weiter als eigentlich nötig oder überhaupt gewollt. Regisseur Ilker Çatak unterzieht diesen obskuren Ort der Macht einer näheren Untersuchung, indem er sich hart an die Fersen seiner Protagonistin Carla heftet. Die gehört weder zur Fraktion der verbeamteten Berufszyniker, noch zu den verhärteten Ex-Idealisten à la »Hier herrscht jetzt Null-Toleranz-Politik«. Dennoch greift sie zu einem ungewöhnlichen Mittel der Beweisführung, als sich herausstellt, dass auch im Lehrerzimmer geklaut wird: Sie überwacht ihre Jacke, inklusive Geldbörse, mit der Kamera ihres Laptops. Prompt erwischt sie den Delinquenten in flagranti, oder zumindest dessen Hand und ein Stück Ärmel mit auffälligem Muster. Und natürlich löst Carlas Bruch von Datenschutz und Privatsphäre eine Flut von Widerstand und verletzten Gefühlen, emotional geführten Diskussionen und sogar Häme aus. Dass es in »Das Lehrerzimmer« zugeht wie im echten Leben, dafür hat Çatak in Tateinheit mit seinem Schulfreund Johannes Duncker gesorgt (wie übrigens auch schon 2019 bei »Es gilt das gesprochene Wort«). Nichts steht in ihrem Drehbuch, was nicht problemlos nachzuvollziehen wäre: keine Aktion, keine Reaktion, keine Überreaktion, die man als Zuschauerin oder Zuschauer vielleicht nicht so, aber so ähnlich schon erlebt hätte. Absolut immer schafft es Leonie Benesch, beim Publikum das Höchstmaß an Identifikation mit Carla herauszukitzeln. Sogar in Momenten, in denen man weiß, dass jedes Wort gegen sie ausgelegt werden kann, gilt mit Hilfe von Benesch in dubio pro reo.

Das Lehrerzimmer

  1. Mai, 1 Std. 38 Min.

Autor und Regisseur Ilker Çatak erzählt in »Das Lehrerzimmer« die universelle Geschichte von der vermeintlich guten Tat und ihrer völligen Eskalation. Kamerafrau Judith Kaufmann liefert dazu die Klaustrophobie eines deutschen Gymnasiums. Wer glaubt, schon alle Arten von Schuldramen gesehen zu haben, hat noch nicht in die Augen von Leonie Benesch geblickt. Als sie davon ausgeht, einen Taschendieb überführt zu haben, fliegen der hochmotivierten Mathe- und Sportlehrerin ihre eigenen Ansprüche um die Ohren.

Edda Bauer