Literatur

04.05. | Buch der Woche

Anne Tyler • Eine gemeinsame Sache

kein & aber

In Anne Tylers Romanen braucht man nur wenige Seiten, um sich wie ein Familienmitglied zu fühlen. Damit ist aber nicht notwendigerweise eine emotionale Heimkehr gemeint, sondern eher das Gefühl, mit einem einzigen Detail zurückgeworfen zu werden in ein kompliziertes Beziehungsgeflecht, das man kennt, selbst wenn man es nicht aus erster Hand kennt. Kritiker vergleichen Tylers Bücher mit Telenovelas und ihre Prosa mit „Milch und Keksen“, aber ihre Fans wissen es besser. Auch „Eine gemeinsame Sache“, der ungefähr 25. Roman der Pulitzerpreisträgerin, spielt mit ihren bewährten Themen, von groß nach klein: Emanzipation und Unabhängigkeit, die arrivierte Arbeiterklasse von Baltimore, Beziehungen der byzantinischen Art. Der Tonfall ist rasant, die Rede größtenteils wörtlich, das geschilderte Leben schon insofern wie das echte, als es szenenhaft vorbeizieht, Film und Filmriss zu gleichen Teilen. Im Mittelpunkt die Familie Garrett, in drei Generationen und in unendlichen Konstellationen. Eine Woche am See, ein Festmahl zu Ostern. Die Wegmarken des Daseins, willkürlich und vielleicht konservativ gesetzt. Konflikte, die nicht die Welt bewegen, die aber all das ausmachen, was ein reflektiertes Durchschnittsleben zu bieten hat, vielleicht sogar mit überdurchschnittlicher Wärme. Die Lektüre ist nicht nur unterhaltsam, sondern geradezu zwanghaft, denn niemand schreibt Alltag wie Anne Tyler. Und niemand fragt so behutsam und doch so beharrlich: „Warum funktionieren manche Familien nicht?“

Anne Tyler
Eine gemeinsame Sache

Kein & Aber, 352 Seiten

Markus Hockenbrink