Literatur

04.03. | Hörbuch der Woche

Ferdinand von Schirach • Kaffee und Zigaretten

Ferdinand von Schirach

Kaffee und Zigaretten

der hörverlag • 215 Minuten

Ferdinand von Schirachs Literatur besteht aus Weilen, die eine Zigarettenlänge oder eine Tasse Kaffee lang währen. Nie wurde das klarer als in seinem neuesten Erzählband.

Ferdinand von Schirach sprach jüngst von seiner Depression und beschrieb sie nicht als melancholisches Verharren hinter zugezogenen Vorhängen, sondern als Grundeinstellung des Gehirns, die das Leben schwer macht: Jener Überdruss also, der Kreativität am Rande des Abgrunds hervorbringt und Genies wie Robin Williams oder Kurt Cobain am Gipfel der Kunst den Freitod wählen ließ. Auch von Schirach versuchte sich, nach eigener Aussage, mit 15 Jahren selbst zu töten, zum Glück schlief er neben der Schrotflinte ein. Der geniale und depressive Treiber hinter seiner Literatur findet auch in seinem neuen Werk „Kaffee und Zigaretten“ lesenswerten Niederschlag. Die 48 Kurzgeschichten, drehen sich um die Abwesenheit von Glück oder, wie es Synästhetiker von Schirach beschreibt, dem Unvermögen, Glück als Farbe wahrzunehmen. In gewohnt knapper Manier und beobachtet von den scharfen und kalten Augen eines Juristen, wird der Leser in schillernde und trostlose Szenarien hineingezogen. Von Schirachs Fertigkeit in der Komposition von Eingangssätzen läutet nahezu 48 Mal spannende Milieus ein, etwa die Pariser Modewelt oder die Gefängnisse Brasiliens. Der Autor zeigt in „Kaffee und Zigaretten“ erneut, dass er sich wenig um die althergebrachte deutsche Unterscheidung von Unterhaltungs- und ernsthafter Literatur schert. Er möchte zum Denken anregen, dabei aber bitteschön auch kurzweilig sein. Viele seiner Szenarien klingen besonders in der Vertonung als Hörbuch trotz des literarisch kondensierten Stils wie verlesene Drehbücher. Wenn man wollte, könnte man dieser Zusammenstellung von Geschichten vorwerfen, dass sie ein bisschen wie die Aperçu-Resterampe seiner beiden Erfolgssammlungen „Schuld“ und „Verbrechen“ wirkt. Wäre „Kaffee und Zigaretten“ ein musikalisches Werk, würde es als Sammlung von B-Seiten vermarktet. Gleichwohl leuchtet ein, warum von Schirach ein Literat von Weltrang ist, dem weder die deutsche Publizisten-Phobie, Kurzgeschichten zu veröffentlichen, noch die Neubearbeitung von Schubladenmaterial etwas anhaben können. Seine Erzählungen um todkranke Schriftsteller, die jeden Tag den Esstisch feierlich für sich selbst eindecken oder um Kleinkriminelle, die sich vor wahrer Liebe und Treue verneigen, sind entbunden von Zeit und Form. Er hat etwas zu erzählen, das sich fernab von Genres bewegt und in seiner moralischen Vision globale Wertigkeit besitzt, dabei aber gleichzeitig unausgegoren ist, zum Beispiel immer dann, wenn er den aufflammenden Rechtsradikalismus in Deutschland mit der Nazizeit kollationiert und diese Vergleiche in der Luft hängen lässt. Das regt in essayistischer Manier zum Nachdenken an. Befördert wird dies nun noch durch die facettenreiche Stimme Lars Eidingers, der zwischen trockener Erzählung und zart sarkastischem Kommentar changiert. Lässt man sich ganz auf seine über drei Stunden andauernde Lesung ein, scheinen die Grenzen zwischen dem Schauspieler Eidinger und dem Literaten von Schirach zu verwischen. Eine willkommene Symbiose zweier Ausnahmetalente.

Miguel Peromingo