Literatur

04.03. | Buch der Woche

Peter Zantingh • Nach Mattias

Diogenes · 28. Februar

Peter Zantingh
Nach Mattias
Diogenes - 240 Seiten

Lieber leicht reisen

Gutgemeinte Neujahrswünsche können die Wirkung eines Nervenschmerzes entfalten, der kurz und intensiv durch den Körper schießt. Peter Zantingh kennt das Gefühl.

Sein Roman ist wie ein malziger Assam, der eine ganze Weile zieht, bevor er sein volles Aroma entfaltet. Und damit die wärmende Tasse Tee nicht unachtsam fallengelassen wird, auf dem Boden in tausend Teile zerschellt und ihr Inhalt die haltende Hand verbrüht, vertraut Zantingh auf ein großes Talent: in sprachlicher Schlichtheit poetisch zu sein. Unprätentiös und gleichzeitig wuchtig. Seine zierlichen Sandburgen, so belanglos sie auch scheinen mögen, sind Zeichen großer Krisen. Der Schutz ihrer Form wird zum letzten verbliebenen Hort persönlicher Ordnung, die abseits von Kinderfantasien und abendlicher Schwärmerei schon längst nicht mehr existiert. Bohrende Zweifel steigen auf. „Die Sonne verschwindet, und ihr Licht ist auch schon schwächer, als wollte sie sagen: Recht hast du, ich hab’s hier auch ziemlich satt.“

Nach Mattias’ Tod ist alles anders. Seine Partnerin trauert, ein langjähriger Freund driftet ab in die Orientierungslosigkeit. Opa und Oma sehen keinen Sinn mehr. Ein einsamer Online-Gamer vermisst seinen Buddy – und die Liebe einer Mutter trägt den Geist auf die höchsten Stufen des Schmerzes. Zantingh stellt die Frage, was so ein tiefgreifender Verlust eigentlich mit uns anstellt, mit unserem Leben, mit unserem Denken, mit unserem Alltag. Und welche Abstufungen es gibt, welche Intensitäten, ja, vielleicht auch Berechtigungen und Ansprüche – auf das Leid und die eigene intime Art der Trauer. Wie wäre es, wenn unsere Trauer nicht uns selbst gehörte, wenn wir uns diese Trauer erst erkämpfen müssten? „Die beiden Frauen bleiben in dem Vakuum zurück, das sich nach dem Abend eingestellt hat, an dem Gespräche, Ausrufe, Gesten kamen und gingen wie das Meer, das auf den Strand rollt und sich wieder zurückzieht.“ Egozentrische Anteilnahme, Small-Talk, Häppchen beim Leichenschmaus – alles Störfeuer auf dem schmerzhaften Weg der Verstoffwechselung. Es tut gut, sich dessen bewusst zu werden.

Zantingh variiert Tempo und Stil, passt sie dem Gegenstand an. So quälend langsam die Passage der entrückten Großeltern, so wild und konfus die unmittelbar folgende eines alkoholsüchtigen Vermieters. Dessen Rolle bleibt lange diffus, Zantingh verschachtelt seine Geschichten, zelebriert die Kunst der Auslassung gerade zu Beginn einzelner Episoden. Er wird die Fragen alle beantworten – beiläufig, durch ein Detail, eine Nuance, eine Randnotiz. Doch richtig klar wird alles erst durch die Augen eines Blinden. Für dessen fünfjährige Tochter existiert keine Weitsicht, „was besteht, besteht um sie herum, innerhalb von höchstens anderthalb Metern. Bis jemand ihr erzählt, was ein Horizont ist und wohin sie gucken muss.“ Sie ist zufrieden, seine wichtigste Verbündete. Könnte das der Schlüssel sein – den Mut aufzubringen, das eigene Blickfeld wieder zu begrenzen, Einschränkung neu zu entdecken? Einfach los, mit leichtem Gepäck, die bekannte Last zu verschieben?

Christian Lamping