Literatur

02.12. | Hörbuch der Woche

Hans Sarkowicz u.a. • Jahrhundertstimmen

der Hörverlag

„Der Nationalsozialismus ist nicht auf Bäumen gewachsen“

In der Edition „Jahrhunderstimmen“ versammelt der erfahrene Radiomoderator Hans Sarkowicz die wichtigsten Stimmen der deutschen Geschichte von 1900 bis 1945. Im Interview spricht er über das Aufspüren von Originaltönen und über die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt.

Sie haben für „Jahrhundertstimmen“ über 200 Originalaufnahmen zusammengetragen. Wie sind Sie vorgegangen?
Der gesamte Prozess dauerte über vier Jahre. Die meisten Originaltöne habe ich im Bestand des Deutschen Rundfunkarchivs gefunden, das die Zeit bis 1945 mit bis zu 8000 Aufnahmen sehr umfangreich dokumentiert hat. Bei der ersten Auswahl bin ich nach zwei Kriterien vorgegangen: Welche Aufnahmen gibt es überhaupt, und was sind die wichtigsten Ereignisse gewesen? Eine erste Auswahl habe ich dann meinen Kollegen präsentiert. Gemeinsam mit der Wissenschaftshistorikerin Annette Voigt, mit Ulrich Herbert, einem der wichtigsten Zeithistoriker des Landes, und dem Verleger und Schriftsteller Michael Krüger wurde eine Wertung vorgenommen, welche Originaltöne in die engere Auswahl kommen. Dabei war uns vor allem wichtig, unterschiedliche Blickwinkel zuzulassen.

Das Anhören der vielen Audiodokumente muss extrem aufwendig gewesen sein.
Aufnahmen von Reichstagsdebatten dauern zum Teil bis zu acht Stunden. Selbst die Sportpalastrede von Goebbels mit dem frenetischen Jubel, von der viele glauben, dass sie nur wenigen Minuten lang war, dauerte tatsächlich fast zwei Stunden. Zu Beginn der Rede war die Masse unter dem Eindruck von Stalingrad noch sehr zurückhaltend. Goebbels hatte diese Rede propagandistisch sehr geschickt aufgebaut, weil er am Anfang auf die Fehler von Stalingrad einging und sich dann rhetorisch langsam hochschaukelte, so dass am Ende diese wahnsinnige Euphorie entstand. Unser Anspruch an die Edition war es aber eben, nicht nur die bekannten Passagen der Geschichte aufzugreifen, sondern auch Entwicklungen aufzuzeigen, angereichert mit repräsentativen Ausschnitten und Originaltönen, die sonst nirgends auf einer Edition zu hören sind.

Wie schwierig war es, die richtige Balance zu finden?
Unser großes Problem war die Zeit des Nationalsozialismus. Wir wollten schließlich keine Edition machen, in der Hitler, Goebbels, Hess und Himmler sich ständig abwechseln. Das wäre gruselig geworden. Während das Filmmaterial aus dieser Zeit fast ausschließlich NS-Propaganda enthielt, sieht das bei den Tönen ganz anders aus, da die Nationalsozialisten zum Teil ihre internen Veranstaltungen mitgeschnitten haben.

Was ist da zu hören?
Wenn zum Beispiel der Eigentümer und Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“, Julius Streicher, der auch NSDAP-Gauleiter von Mittelfranken war, sich ganz unverhohlen vor seinen Parteigenossen in Nürnberg über die „Rassenfrage“ äußert und dabei erklärt, warum das Blatt immer so primitiv sein muss, oder Heinrich Himmler in seiner grausamen Geheimrede in Posen über die Ermordung der europäischen Juden doziert, dann gibt es dazu keine Bilder. Genauso der einzige inoffizielle O-Ton Hitlers, eine geheime Aufzeichnung eines Gesprächs mit dem finnischen Oberbefehlshaber Karl Gustav Mannerheim vom 4. Juli 1942. Hitler äußert sich darin ganz offen über die Fehler in der bisherigen Kriegsführung. Das sind O-Töne, die wären so nie in der Wochenschau gesendet worden.

Haben Sie auch Stimmen des Protests ausfindig machen können?
Ja, diese Differenzierung war uns besonders wichtig, vor allem Stimmen wollten wir Stimmen von außen einbeziehen. Ob nun Papst Pius der Zwölfte, der im September 1943 den totalen Krieg ablehnte, oder ob das ins Exil gegangene Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind, wie zum Beispiel Thomas Mann. Es gab eine massive Opposition außerhalb Deutschlands, zum Beispiel durch Sendungen der BBC, der Stimme Amerikas oder Radio Moskau, die in Deutschland über das Radio gehört werden konnten. Das Radio war das einzige Medium, das die Grenzen ungehindert überspringen konnte. Das vermochten weder das Buch noch die Zeitung, denn die Presseerzeugnisse wurden an den Grenzen kontrolliert. Das Radio ging aber locker durch, vor allem über Kurzwelle. Die BBC lieferte sogar Bastelanleitungen, wie man die Kurzwelle ins Radio einbauen konnte.

Kann eine historische Tonaufnahme einen besseren Einblick in die Geschichte geben als ein Buch?
Das Interessante an den Aufnahmen ist, dass ein großer Teil der Reden und Reportagen nicht in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Es gibt heute immer noch eine Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft, was Töne betrifft, wenn sie nicht verschriftlicht wurden. Dabei hört man bei den Tönen viel mehr heraus.

Haben Sie ein Beispiel parat?
Wenn man eine Reichstagssitzung von 1930 hört, mit Kurt Schumacher und Walter Ulbricht, merkt man, wie emotional so eine Debatte ablief, wenn Goebbels hinzukam, der pauschal die anderen Politiker attackierte. Das liest sich – wenn man es überhaupt lesen kann – relativ harmlos, doch durch die Tonaufnahmen wissen wir, wie aufgeladen solche Situationen tatsächlich waren.

Der spanische Philosoph George Santayana konstatierte: „Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“ Ist da was dran?
Da bin ich vorsichtig, denn exakte Wiederholungen gibt es eigentlich nicht. Es sind immer bestimmte Entwicklungen und Variationen, die sich in den Grundzügen ähneln können. Deshalb ist es wichtig, sich mit Geschichte zu beschäftigen, um erahnen zu können, wenn sich Vergleichbares andeutet.

Wo sehen Sie eine Gefahr?
Der Nationalsozialismus ist nicht auf Bäumen gewachsen und war plötzlich da, sondern hat sich angedeutet. In den Tonaufnahmen von 1930 bis Januar 1933, die wir in die Edition aufgenommen haben, lassen sich massive Warnungen heraushören. Wir haben zum Beispiel zwei Töne von Funktionären der zentralen jüdischen Vereinigung in Deutschland, die 1930 zur Reichstagswahl vor den Nationalsozialisten warnen und ihre deutsch-jüdischen Mitbürger dazu auffordern, Widerstand zu leisten. Das mündet schlussendlich in der hochdramatischen Rede von Clara Zetkin, dieser alten Dame mit ihrer gebrochenen Stimme, die zur Eröffnung des Reichstags Ende 1932 noch einmal die Vereinigung aller Sozialisten und Kommunisten beschwor und dazu aufforderte, gegen die NSDAP anzukämpfen, wohlwissend, dass es zu keiner Allianz mehr kommen würde. Aber sie hat mit diesem Appell noch einmal deutlich gemacht, dass die Gefahr, die auf sie zukommt, allgegenwärtig ist. Daraus kann man etwas lernen.

Nämlich?
Wie gefährlich es war, den Antisemitismus dieser Partei zu unterschätzen und erst einmal damit abzutun, dass es sich angeblich nur um ein paar wenige Hansel handelte, die 1930 mitgelaufen waren. Die NSDAP war eine junge Bewegung, vom Altersdurchschnitt die jüngste Partei, die auch große Erfolge in der Studentenschaft verzeichnen konnte. Nun ist die heutige AfD keine NSDAP, doch wenn der Erfolg der AfD bei männlichen Jungwählern, vor allem im Osten, anhält, dann ist das sehr bedenklich. Anzunehmen, junge Menschen wählten per se links, wie man lange gedacht hat, ist falsch. Ganz im Gegenteil, es gibt auch dort rechtes Denken.


Hans Sarkowicz u.a.
Jahrhundertstimmen

Der Hörverlag, 24 Std. 10 Min.

In „Jahrhundertstimmen 1900-1945 - Deutsche Geschichte in über 200 Originalaufnahmen“ werden Ereignisse in Politik, Kultur und Wissenschaft umfangreich und sehr gut recherchiert als Hörbuch-Edition versammelt. Hörerinnen und Hörer erwartet ein unmittelbares und authentisches zeitgeschichtliches Erlebnis der deutschen Geschichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zur Diktatur des Nationalsozialismus. Hans Sarkowicz führt in Gesprächen mit dem Historiker Ulrich Herbert, dem Verleger und Autor Michael Krüger und der Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt in die Themen ein und liefert spannende historische Hintergründe.

Björn Eenboom