Literatur

02.11. | Buch der Woche

Bob Dylan • Die Philosophie des modernen Songs

C.H. Beck

02.11. | Buch der Woche - Bob Dylan • Die Philosophie des modernen Songs

Das neue Buch des Literaturnobelpreisträgers von 2016 ist mitnichten der zweite Teil seiner Autobiografie – sehr persönlich ist diese Essaysammlung dennoch geworden. Bob Dylan reflektiert darin seine 66 Lieblingssongs und liefert gleichzeitig eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die offenlegt, warum diese Lieder auch für uns alle wichtig sind.

Wer hätte gedacht, dass sich Bob Dylan jemals zu "London Calling" von The Clash äußern würde? Noch dazu so profund und ausführlich. Das ist schon eine Sensation: ein neues Buch des alten Barden, mit neuen Gedanken zu alten Liedern. Gerade erst war er in Deutschland zu Gast und unterbrach sogar den Vortrag, wenn jemand gegen sein No-Smartphone-Dekret verstieß. Der Nobelpreisträger, Whiskey-Brenner und Gartentor-Schweißer, der nebenbei auch seit sechs Jahrzehnten Schallplatten aufnimmt, wenn er nicht gerade Bilder malt, Radio-Shows produziert, Filme dreht oder Werbung für Autos, Computer oder Unterwäsche macht, hat jetzt also ein weiteres Buch verfasst. Nein, es ist nicht „Volume Two” seiner Chronicles, also die lang erwartete Fortsetzung seiner sprunghaften Memoiren. In seiner "Philosophie des modernen Songs" finden sich wunderbar subjektive, assoziative Kommentare zu 66 Liedern. Das mag zunächst nach einer Zweitverwertung seiner großartigen Sendung „Theme Time Radio Hour“ klingen, in der Dylan sich bereits zu Hunderten Hits ausgelassen hat. Jetzt aber gräbt er tiefer und führt mit Witz und Willkür aus, was für ihn die Magie des jeweiligen Liedes ausmacht.

"Die Philosophie des modernen Songs": Dass der Titel im Deutschen noch gravitätischer klingt als im Englischen, liegt auch am Cover-Foto. Der Verlag C.H. Beck wählte ein Schwarzweiß-Porträt von William Claxton, das das Gesicht des Sängers wie in Stein gemeißelt wirken lässt. Im amerikanischen Original wird der ernste Buchtitel durch das fröhliche Coverfoto mit Little Richard, Alis Lesley und Eddie Cochran eher konterkariert. Zu den Überraschungen zählt hier die opulent-wilde Bebilderung der Essays, mit meist unbekannten Fotos und Grafiken. Nicht nur gibt sich Dylan klar als Vinyl-Liebhaber zu erkennen – etliche Aufnahmen zeigen Schallplatten, Record Stores und die Produktion oder Bewerbung von Alben – er hat auch manche seiner Thesen hintersinnig gegen den Strich illustriert. Etwa wenn er über den Song "Tutti Frutti" schreibt, aber ein Stillleben mit Äpfeln und Birnen des französischen Impressionisten Paul Cézanne zeigt. Das ist schon très amusant! Den Text über "Beyond The Sea" von Bobby Darin begleitet dagegen eine historische Illustration aus Moby Dick. Und wenn er über einen eher obskuren Song wie "Cheaper To Keep Her" von Johnnie Taylor schreibt, sieht man ein Filmstill aus dem Drama "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" (1966), in dem übrigens in einer Szene seine LP "Another Side Of Bob Dylan" kurz zu sehen ist. Man ahnt: Dylan-Exegeten und Pop-Historiker werden an diesem Meisterwerk noch Jahre ihre Freude haben. Und nicht nur sie.

Bob Dylan
Die Philosophie des modernen Songs

C.H. Beck, 352 Seiten, 35 Euro

Gerrit Terstiege