Literatur

02.01. | Buch der Woche

Jeffrey Euginedes • Das große Experiment

JEFFREY EUGENIDES

Das große Experiment

Rowohlt • 20. November

Meist schreiben Autoren Kurzgeschichten, wenn sie einen spannenden Plot haben, der aber keinen ganzen Roman trägt. Bei dem US-amerikanischen Schriftsteller Jeffrey Eugenides ist es umgekehrt.

Spätestens seit seinem mit dem Pulitzer- Preis ausgezeichneten Opus Magnum „Middlesex“ gilt Jeffrey Eugenides als einer der großen Epiker der Gegenwart; 2015 folgte eine weitere Ehrung, als die BBC „Middlesex“ unter die bislang 20 besten Romane des neuen Jahrtausends wählte. All dies geschah durchaus zu Recht, „Middlesex“ ist neben Jonathan Franzens „Korrekturen“ ein selten facettenreicher, dichter Lesegenuss von hohem gesellschaftlichem Wert, weil er anhand von Einzelschicksalen große soziokulturelle Bögen spannt. Dass der 1960 in Detroit geborene Sohn eines griechischen Immigranten die Langstrecke beherrscht, bewies er dann erneut mit seinem 2011 in Deutschland erschienenen, dritten Roman „Die Liebeshandlung“. Seither war es verdächtig still um diesen ausgezeichneten Stilisten, der die Sätze ähnlich erhaben und dabei souverän gelassen formuliert wie etwa Nils Frahm seine moderne Klassik: Stets spürt man die Liebe zur großen klassischen Weltliteratur, erhält aber gleichzeitig Kunstwerke mit einer starken eigenen, zeitgenössischen Handschrift. Anders als in den USA, konnte man sich in Deutschland bereits 2003 davon überzeugen, dass Eugenides aber auch im Sprint zu echten Höhenflügen ansetzen kann: Der dünne Erzählband „Air Mail“ enthielt drei Kurzgeschichten von famoser Brillanz, die zeigten, wie virtuos sich der Autor auch auf Alltagsgeschichten versteht, die ins Kuriose abdriften. Diese drei genannten Erzählungen finden sich nun auch in Eugenides' erster internationaler Sammlung von Short Stories, ergänzt um sieben weitere, die im Laufe der letzten 30 Jahre entstanden. So divers die Geschichten auch sind, drei Dinge einen sie: Zum einen die fulminante Sprachmacht des Autors, dessen geschliffene, pathosfreie und subtil humorvolle Sätze eine gelassene Selbstverständlichkeit ausstrahlen, als sei es das Einfachste der Welt, so zu schreiben. Zum Zweiten sein Talent, das Alltägliche glaubwürdig ins Extrem zu treiben. Eugenides erzählt schlicht von Schicksalen, die authentisch und nahbar sind, denen aber dennoch Dinge widerfahren, die niemand von uns je erleben möchte. Sei es die junge Inderin, die einen verheirateten Mann verführt, um ihre Jungfräulichkeit zu verlieren und damit einer Zwangsheirat zu entgehen; sei es die 40-jährige Nachrichtenredakteurin, die sich mit einer Bratenspritze und einem selbst angerührten Sperma- Mix zu schwängern versucht, oder sei es der rechtschaffene Verlagsmitarbeiter, der seinen Chef betrügt, um sein Haus für seine sonst frierenden Kinder heizen zu können: nichts davon ist abwegig und gleichzeitig herrlich absurd. Eine Dualität, die von furioser Kunstfertigkeit zeugt und an kleinen, letztlich oft unausweichlich erscheinenden Schicksalswendungen den gesamten Irrsinn des Daseins illustriert. Was uns zur dritten Gemeinsamkeit bringt: Jede dieser kurzen Geschichten und angerissenen Figuren ist so stark, nah und interessant, dass man über sie genauso gern einen großen Roman gelesen hätte. Eine Qualität, die Eugenides Schreiben auszeichnet und die man in dieser Dichte sonst selten in einem Kurzgeschichtenband findet. Sascha Krüger