Literatur

01.09. | Buch der Woche

Rüdiger Safranski • Einzeln sein

Hanser

Ich, der Steppenwolf

Rüdiger Safranski schildert anhand bekannter Philosophen, was es heißt, ein Einzelgänger zu sein. Was aber haben diese sonderbaren Gestalten eigentlich mit uns zu tun?

Es dauerte um die zwei Jahre, bis er ihr seine Liebe gestand. Doch nach der erfolgten Verlobung zog sich Sören Kierkegaard in seinen Elfenbeinturm zurück und flüchtete sich in Grübeleien über Gott, über Hegel, über Existenz. Elf Monate später erhielt Regine Olsen einen Brief, in dem ihr der dänische Philosoph erklärte, er sei nicht für die Ehe gemacht. Der Verlobungsring war beigelegt. Was es heißt, ein Einzelner zu sein, davon gibt Kierkegaards Leben eindrucksvoll Zeugnis – genau wie das von unter anderen Michel de Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Max Stirner und Henry David Thoreau. Alles Charaktere, die Rüdiger Safranski in seinem inspirierenden Werk „Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung“ unter dem Aspekt des Auf-Sich-Geworfenseins einer näheren Betrachtung unterzieht. Folgt man ihren Biografien und Philosophien, so wird deutlich: Der sich zu seinem Singular Bekennende, derjenige, der im Ich mehr beheimatet ist als im Wir, ist auch darin einzig. Kein Steppenwolf gleicht dem anderen. Am Beispiel von Diderot zeigt Safranski den Einzelnen als „geselliges Genie“, während er Ernst Jünger als jemanden beschreibt, der seine Solo-Pfade als „Stoßtruppführer und Waldgänger“ bestritt.

Doch wie nah sind uns diese teils sonderbaren, teils verschrobenen Gestalten? Was haben sie eigentlich mit uns zu tun? Drängt es doch den Menschen, vom Wesen her ein Zoon politikon, in der Regel hin zu anderen, zu Austausch und Geselligkeit, zu kleinen und zu großen Gruppen. „Wie im Samen der ganze Baum veranlagt ist, so ist im Menschen der Staat veranlagt“, beschrieb es einst Aristoteles. Und dennoch machen wir alle die Urerfahrung im Sinne Blaise Pascals: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.“ Wir sind also mit der Geburt, durch die Trennung von der Nabelschnur, aus der Mutter-Kind-Dyade Verstoßene – und müssen nun mit dem zurechtkommen, was die „unendlichen Räume“ uns zumuten. Zwar sind wir weiterhin angewiesen auf ein Du, gerade dadurch aber offenbart sich unser Alleinsein – und lässt manche Artgenossen danach streben, der Angewiesenheit und damit dem Sozialen zu entkommen und das Einzelgängertum zum Daseinsprinzip zu erheben. „Jeder Mensch ist zunächst einmal ein Einzelner. Das kann zur Belastung werden, vor der ein Leben in Gemeinschaft schützt, das kann aber auch den Ehrgeiz wecken, die eigene Individualität zu kultivieren“, so Safranski.

Inwiefern aber, auch das fragt der Philosoph, ertragen wir es, Einzelne zu sein? „Eine Frage, die sich ganz überraschend in unser alltägliches Leben gedrängt hat“. Man könnte auch sagen: Sollte der nächste Lockdown kommen, haben wir das Einzeln-Sein besser eingeübt. Allein: wie sehr wollen wir das? Ein Spannungsfeld ist dabei unvermeidbar. „Wer als Einzelner seine Eigenheit entdeckt und annimmt, möchte zwar sich selbst gehören, aber doch auch zugehörig bleiben“, schreibt Safranski. Sein aktuelles Werk kann uns diese Last nicht nehmen, zugleich aber ist es eine Ermunterung, sich radikal auf sich selbst einzulassen. Ganz ohne Angst.

Rüdiger Safranski
Einzeln sein

Hanser, 288 Seiten

Sylvie-Sophie Schindler