Musik

01.01. | Album der Woche

Nick Cave und Nicholas Lens • L. I. T. A. N. I. E. S.

Deutsche Grammophon

Foto: Sebastien Forthomme

Ohne Schallverschmutzung

Der belgische Komponist Nicholas Lens hat sich ein zweites Mal mit Nick Cave zusammengetan. Entstanden sind zwölf kammermusikalische Litaneien.

Monsieur Lens, die Idee zu »L. I. T. A. N. I. E. S« wuchs während einer Reise in Japan. Was haben Sie dort gefunden, das sie zuvor nicht kannten?
Die Idee der Stille in der Natur, von natürlichen Klängen, die in keiner Weise von Menschen beeinträchtigt werden, hat mich mehr beeinflusst, als ich dachte. Es gibt zu viel unnatürlichen Lärm in der Welt, zu viel unerwünschte Musik. Ich nenne das »Schallverschmutzung«. Es ist schwierig, ihr zu entkommen. Wenn man in Telefonwarteschleifen hängt, ertönt Musik, die man nicht ausgewählt hat und in diesem Moment vielleicht nicht hören möchte. Andere Menschen entscheiden, was Sie hören sollen, obwohl Stille sehr willkommen wäre. Seit ein paar Jahren fahre ich regelmäßig nach Japan, besonders gerne nach Kita Kamakura. Wenn man dort gegen 5 Uhr morgens auf die Tempelanlage geht, gibt es diese natürliche Stille, die ich suche, die Naturgeräusche aus diesem regnerischen, übermäßig grünen Wald. Ich finde diese Szenerie visuell, auditiv und emotional am attraktivsten. Ein erster Teil der Idee von »L. I. T. A. N. I. E. S« wurde definitiv dort geboren.

Eine Litanei ist eine Form des gemeinschaftlichen Gebets. Wen rufen Sie mit den zwölf Litaneien an?
Das Wort stammt aus christlichen und jüdischen Traditionen, aber die Form und die Praxis unterscheiden sich in buddhistischen Riten nicht. Für mich bedeutet es eher eine reine Form der Poesie, eine Wiederholung in der Bewegung. Als »L. I. T. A. N. I. E. S« begann, seine eigene dramaturgische Struktur zu entwickeln, verließ es mit Sicherheit die Richtung, die wir ursprünglich einschlagen wollten. Es wurde unabsichtlich zu einem symbolischen Werk. Sie hatten bereits 2014 mit Nick Cave zusammengearbeitet.

Sprechen Sie beide dieselbe musikalische Sprache?
Bei der Zusammenarbeit an der Oper »Shell Shock« konnten wir viel voneinander lernen, da wir aus völlig verschiedenen Welten kommen. Die Struktur der Oper ist die ultimative Form des Theaters. Nick kennt die Dramaturgie, ohne sie eigentlich zu kennen. Er benutzt sie einfach auf natürliche Weise. Eine Singstimme lügt nicht. Nicht, weil sie nicht lügen will, sie ist einfach nicht fähig dazu. »L. I. T. A. N. I. E. S« ist anders, höchst anders, aber es basiert auf dem gleichen dramaturgischen Gefühl. Nick hat Ordnung in das Chaos der ursprünglichen Idee gebracht. Er hat sie ausgegossen und bis auf die Knochen freigekratzt.

FAZIT:
NICK CAVE UND NICHOLAS LENS
L. I. T. A. N. I. E. S.

Deutsche Grammophon

»L. I. T. A. N. I. E. S« ist das progressive Werk eines zeitgenössischen Komponisten, der mit der Hilfe und den Texten Nick Caves auch die Freigeister der Popkultur adressiert. Die zwölf Litaneien werden von Lens‘ Tochter Clara- Lane gesungen, die mit ihrer Stimme die wohlige Erinnerung an Kate Bush’s »50 Words For Snow« an die Oberfläche spült. »L. I. T. A. N. I. E. S« wagt aber einen noch größeren, nicht minder eleganten Spagat zwischen schwebender Kammermusik und Art-Pop.

Daniel Thomas