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Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen

Auf dem „Zauberberg“

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Das Uniklinikum Marburg, Teil des privatisierten Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM), liegt hoch auf den Lahnbergen in einem Waldgebiet. Bei der Anfahrt kommen einem Gedanken an den „Zauberberg“ von Thomas Mann, doch weder ist man hier der Auffassung, dass Krankheit den Menschen veredelt noch betreibt das Team um Professor Dr. Jürgen Schäfer Psychoanalyse. Die Frauen und Männer vom „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ analysieren Symptome, denen kein anderer Mediziner die richtige Krankheit zuordnen konnte. Ursprünglich inspiriert durch die detektivische Diagnostik des fiktionalen Arztes „Dr. House“, bleiben die Mediziner von Marburg solange am Fall, bis sie die Lösung gefunden haben. Ein Besuch an einem Ort, den zu erleben jede TV-Serie überflügelt.

GALORE

Die Posthornschnecke und der böse Egel

Als Täter überführt wurde die Posthornschnecke. Ein putziges Wasserwesen mit dem zungenbrecherischen wissenschaftlichen Namen Biomphalaria glabrata. Nicht die hierzulande gezüchtete Variante für Gartenteiche, sondern ein Original aus Afrika. Sie kam offensichtlich als Beifang mit einer Lieferung Flussgarnelen nach Deutschland und teilte sich das Aquarium mit den gefragten Zierwesen. „Üblicherweise gehen bei professionellen Händlern Tiere aus diesen Gefilden nach dem Import mehrere Wochen in Quarantäne“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Schäfer auf einem Drehstuhl im Labor, „aber mit den Direktbestellungen via Internet kommen solche Tiere – und damit auch die Parasiten – in wenigen Tagen hier an. Wir gehen davon aus, dass unser Patient sie sich auf einer Spezialmesse ins Haus geholt hat. Hier müssten Tierimporte deutlich besser überwacht werden.“ Der Patient hatte, kurz bevor seine Beschwerden begannen, mit einer Garnelenzucht begonnen und besaß mehr als ein Dutzend Aquarien. Nicht, dass er das bei der Konsultation verschwiegen hätte, aber: „Wer kommt schon direkt darauf, rätselhafte Entzündungen und chronische Darmbeschwerden mit solch einem Hobby in Verbindung zu bringen?“ Schäfer gibt zu: „Ich weiß, hinterher hört es sich immer so an, dass man denkt: Ja, natürlich, glasklare Sache. Aber der Weg dorthin ist oftmals gar nicht so leicht.“ Die Posthornschnecke ist Überträger der Bilharziose, einer tropischen Infektionskrankheit, die vom Pärchenegel ausgelöst wird. Kommt der Mensch mit den lebenden Larven dieser Süßwasser-Egel in Berührung, ist er infiziert. Die Tiere bohren sich durch die intakte Haut, sogar durch Latexhandschuhe, und wandern durch den Körper bis in den Darm oder gar in die Harnblase. „Da macht es keinen Unterschied, ob man die Hand direkt in den Nil oder in ein Aquarium hält, in dem die Posthornschnecke als Träger tausende dieser Larven verteilt hat.“ Allerdings macht es sehr wohl einen Unterschied, ob die Akte eines Patienten Reisen nach Afrika offenbart oder nicht. Blieb der Mensch daheim, wird verständlicherweise auch kein Tropeninstitut eingeschaltet. Berichtet er von seiner Garnelenzucht, ist das immer noch kein Grund, an Bilharziose zu denken, da Garnelen die Krankheit nicht übertragen. Dass ein blinder Passagier in Form einer Schnecke im feuchten Gepäck gewesen sein könnte, darauf muss man in der Tat erst mal kommen. Schäfer und sein Team kamen auf die Idee, da sie in einem selbst entwickelten Testsystem den Stuhl ihres Patienten untersuchten und darin so plötzlich wie unerwartet die Erbinformation von Schistosomen entdeckten. Somit stand der Verdacht einer Bilharziose im Raum. Jetzt galt es allerdings, ihn durch den direkten Nachweis von Eiern dieses Parasiten mit dem wissenschaftlichen Namen „Schistosoma mansoni“ auch nachweisen zu können. Das erforderte extrem aufwändige Stuhluntersuchungen, die das Team mehrere Wochen beschäftigten. Da der Egel nur in Afrika, dem Orient sowie in Süd- und Zentralamerika vorkommt, ist der Nachweis von Eiern im Stuhl bei gesunden Mitteleuropäern schwierig. Vor allem, wenn der Parasit in die Jahre kommt und kaum noch Eier produziert. Verteilen sich von diesen nur sehr wenige in einer sehr großen Menge Kot, muss man große Mengen Stuhl aufarbeiten, um wenigstens ein paar Eier anzukonzentrieren. Mit der üblichen winzigen Probe, die man als Patient mit dem Schäufelchen aus seinem Abort klaubt, ist es da nicht getan, weswegen zuvor niemand etwas finden konnte. Doch die Männer aus dem ZusE-Labor in Raum 5008 gaben nicht auf. Zwar konnten sie immer und immer wieder die DNA des Parasiten nachweisen, aber der definitive Beleg, das Parasiten-Ei selbst, blieb ihnen verborgen. „Der Kollege Ruppert ist dann eines Abends auf eine Promotionsfeier gegangen“, sagt Jürgen Schäfer und scherzt: „Wie das hier bei uns eben so läuft. Der Chef muss arbeiten, die Mitarbeiter gehen feiern.“ Dr. Volker Ruppert schmunzelt, während er auf dem Rechner das Bild des Egel-Eies sucht. „Auf der Feier traf er einen Kollegen aus Ägypten und erzählte ihm von dem ungewöhnlichen Fall. Der Mann, ein erfahrener Tierarzt und Parasitologe, war mit afrikanischen Egeln und Erregern natürlich vertrauter als wir und bot an, uns bei der Suche zu unterstützen. Er benutzte eine große Menge Stuhl, konzentrierte diese gezielt auf Parasiteneier an, und siehe da: Noch am selben Tag hatte er ein paar dieser verflixten Eier unter dem Mikroskop nachgewiesen. Sehr beeindruckend.“

Dr. Reinfried Pohl Stiftung

„Ganz allgemein bin ich der Meinung, dass es in unserer Zeit mehr denn je nötig ist, die Gemeinschaft sichtbar werden zu lassen. Wir sind groß geworden aus der Erkenntnis, dass es eine Gemeinschaftsstärke gibt.“ Diese Worte des Juristen und Gründers der ersten Vermögensberatungsgesellschaft Deutschlands, Dr. Reinfried Pohl, passen gut zur von seiner Stiftung ermöglichten Arbeit Jürgen Schäfers. Die Stiftung des 2014 verstorbenen Marburger Ehrenbürgers Pohl fördert gezielt die Arbeit der Phillips-Universität Marburg im Bereich Medizin und Rechtswissenschaften.

Die fatale Fallpauschale

Die Möglichkeiten, die das Team von Jürgen Schäfer allein im Labor hat, sind faszinierend. Die Molekularbiologen Dr. Volker Ruppert und Dr. Muhidien Soufi sowie die Ärztin Dr. Bilgen Kurt können in den erstaunlich überschaubaren, mit Laborgeräten vollgestellten Räumen bis ins kleinste Molekül DNA-Stränge analysieren. In einem mehrstufigen Verfahren werden diese durch die „Polymerase Chain Reaction“ (PCR) sozusagen „vervielfältigt“, um sie besser untersuchen zu können. „Auch wenn es sich um ein kompliziertes High-Tech-Verfahren handelt, ist es im Vergleich zur klassischen Analyse mit Kultur und Mikroskop wesentlich einfacher und zugleich empfindlicher“, erläutert Dr. Ruppert, laut Jürgen Schäfer zusammen mit Dr. Soufi „die Besten ihres Faches, die im Team unschlagbar sind.“

Papier, so dünn wie Bibelseiten. Nachschlagewerke der alten Schule.

Alles, was sie hier tun, kostet Zeit. Und Geld, was in diesem Fall deckungsgleich ist. „Wenn wir einen Patienten in unserer Ambulanz sehen, bekommen wir dafür etwa 40 Euro pro Patient pro Quartal“, sagt Schäfer. Der Standardtarif einer ambulanten Vorstellung, unabhängig davon, ob es sich dabei um zwei Minuten beim Hausarzt handelt oder um mehrtägige Überlegungen und aufwändige Untersuchungen. Einigermaßen fair honoriert würden im Gesundheitssystem derzeit vor allem operative Verfahren, auf die man leicht ein Preisschild kleben kann. Die Durchsicht von Akten, das Erheben einer aufwändigen Krankengeschichte, die Überprüfung von Medikamenten und deren Nebenwirkungen, Datenbankrecherchen und das Literaturstudium, kurz: das Denken schlechthin, werde hingegen nicht honoriert. „Künstliche Hüften können Sie im Stundentakt verbauen, das wird korrekt bezahlt. Aber wenn Sie sich mal eine Stunde zu einem extrem komplizierten Patienten Gedanken machen wollen, geschieht dies auf Kosten des Hauses“, sagt Schäfer. Und selbst, wenn es ans Handeln geht, offenbart das System Schwächen. Ab 2003 wurde schrittweise das „Diagnosis Related Groups“-System (DRG) zur Fallpauschalenabrechnung eingeführt; ein einheitlicher Modus für sämtliche Krankenhäuser mit wenigen Ausnahmen in der Palliativmedizin und bei psychischen Erkrankungen. Vor dieser Reform berechneten die Kliniken individuelle Pflegesätze pro Tag, egal wie schwer der Patient erkrankt und wie aufwändig seine Behandlung war. Kein faires System, das zu Recht geändert wurde. Heute geht es nicht nach Aufenthaltsdauer, sondern nach Behandlungsfall und Fallschwere. Was auf den ersten Blick gerechter klingt, zeigt in der Praxis fatale Auswirkungen für Unikliniken und Häuser der Maximalversorgung. Kliniken, die alle medizinischen Bereiche abdecken, leiden unter diesem System mehrfach. Schäfer: „Kleinere Einrichtungen ziehen sich aus der Versorgung finanziell problematischer Bereiche zurück. Schwerpunkte wie Rheumatologie, Endokrinologie oder medizinische Polikliniken werden nahezu abgeschafft, aber auch Kinderkliniken, Haut-, HNO- und Augenkliniken leiden unter diesem System. Selbst bei der unmittelbaren Patientenversorgung offenbart es Schwächen. Schäfer gibt ein Beispiel: „Kommt ein Patient nach einem Sturz mit gebrochener Hüfte zu einer Hüft-OP in eine Uniklinik mit Maximalversorgung, bekommt die Klinik von der Kasse zwar Geld für die Hüftbehandlung. Erleidet der Patient aber während seines Aufenthalts einen Schlaganfall oder eine Lungenentzündung, werden diese Zusatzkosten nicht adäquat abgedeckt.“ Mit anderen Worten: Das Abrechnungssystem ist viel mehr als bloß ein bürokratisches Verwaltungswerkzeug. Es wird, so Schäfer, „zum strukturbildenden Element in unserem eigentlich tollen Gesundheitssystem. Das DRG-System hat nie zu den geplanten Einsparungen geführt. Es nimmt im Gegenteil direkten Einfluss darauf, dass kleinere Spezialkliniken aufblühen und die Uni-Kliniken – unabhängig von der Trägerschaft – finanziell hart am Wind segeln. Was fatal ist, da nur in ihnen Zeit und Raum für Forschung, Lehre und komplizierte Fälle ist. Und für eine so außergewöhnliche Einrichtung wie unser Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen.“ Jürgen Schäfer seufzt und schüttelt den Kopf, während Dr. Ruppert bereits die Bilder weiterer Bakterien und Würmer sucht. „Eigentlich möchte ich über diese politisch verqueren Dinge gar nicht sprechen. Aber es muss uns doch zu denken geben, wenn sich studierte Medizinerinnen und Mediziner weigern, das Gesundheitsministerium zu führen und dafür lieber Verteidigungsministerin oder Wirtschaftsminister werden. Was ein fachkundiges Ministerium alles für unsere Patienten bewegen könnte… da läuft etwas verkehrt. Ich möchte lieber über unser wunderbares Fach reden, aber ich muss das erläutern, damit den Menschen klar wird, wieso sich nur so wenige Kollegen den Luxus erlauben können, sich Zeit für das zu nehmen, was wir hier tun. Und dass sich beim DRG-System etwas ändern muss, wenn wir unsere Universitäten nicht völlig verheizen wollen.“

Frau Olischläger bei der Arbeit. Im Vordergrund der Stapel der Anfragen eines Tages.

Regalwände und Jenga-Türme

Das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen in der UKGM spricht sich als Akronym ZusE. Bei der Neubenennung (zuerst hieß es nur „ZuK“ für „Zentrum für unerkannte Krankheiten“) wurde diese Sprechweise mitbedacht, erklärt Jürgen Schäfer während eines Rundgangs durch das Klinikum, „als Hommage an den deutschen Computerpionier Konrad Zuse“, der keine 100 Kilometer entfernt in der Rhön lebte und „ohne den wir heute keines der Geräte hätten, die die technische Grundlage unserer Arbeit bilden.“ Außerdem, weil es bundesweit kein anderes Zentrum gibt, das neben den „seltenen“ auch die „unerkannten“ Krankheiten im Namen führt. Zentren für seltene Erkrankungen (ZSE) gibt es 26, meistens ebenfalls angesiedelt an Unikliniken. Sie kümmern sich extrem erfolgreich um Patienten mit Leiden, die nur in einem von 2.000 Fällen auftreten und sind eng vernetzt. Doch auch sie haben das gleiche Problem wie die Marburger: Chronische Überlastung und Unterfinanzierung.

„Hinterher hört es sich immer so an, dass man denkt: Ja, natürlich, glasklare Sache. Aber der Weg dorthin ist oftmals gar nicht so leicht.“
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Der Bedarf an Einrichtungen wie dem ZusE lässt sich in einem Zimmer beobachten, dessen gesamte Wand von einem Regal eingenommen wird, das ausschließlich mit Ordnern vieler offener und weniger erledigter Fälle gefüllt ist. Zurzeit beläuft sich die Zahl ungefähr auf 6.000, Tendenz steigend. Anlaufstelle für Menschen, die in ihrer Ratlosigkeit anrufen, ist Frau Olischläger. Ihr Telefon klingelt pausenlos, der Stapel von Patientenakten neben ihr wankt bedenklich, einem Turm aus Jenga-Spielsteinen nicht unähnlich. „Die Fälle von heute“, sagt Frau Olischläger und schmunzelt mit einem Hauch von Fatalismus und Zuversicht zugleich. Alles machbar. Einer nach dem anderen. „Wir wüssten nicht, was wir ohne sie täten“, lobt Schäfer seine Meisterin der Logistik und erklärt, wieso sie den Anrufern erstmal immer zu erklären hat, dass Marburg für sie nicht der erste Schritt sein kann, sondern erst nach einer Vorstellung in einer heimatnahen Uniklinik Sinn hat. „Viele melden sich, ohne mit ihren Symptomen vorher bei jemand anderem vorstellig geworden zu sein.“ Dabei erkennen Hausärzte, Fachärzte und vor allem Krankenhäuser und Unikliniken in den Heimatregionen der Menschen die meisten Erkrankungen zuverlässig – wenn man denn hingeht. Sie müssen abklären, ob es sich bei den Leiden des Patienten nicht doch um etwas handelt, für das die medizinischen Detektive aus Marburg gar nicht benötigt werden. Selbst, wenn sie nicht herausfinden, was der Patient hat, liefert ihre diagnostische Vorarbeit wertvolles Datenmaterial, mit dem Schäfer und sein Team arbeiten können. Das Ziel lautet, dass die begrenzten Kapazitäten in Marburg wirklich nur den Menschen zugutekommen, denen nirgendwo anders geholfen werden kann.

Das Wir entscheidet

Kernstück der Arbeit von Schäfer und seinem Team sind die Teamsitzungen, die tatsächlich dem ähneln, was man in der Serie „Dr. House“ zu sehen bekommt, wenngleich ohne Zynismus und wesentlich freundlicher. Das ist kein Zufall, denn ZusE entstand aus einem Seminar Schäfers, in dem er einige der Fälle aus der TV-Serie mit seinen Studierenden erörterte. Diese Veranstaltung erzeugte nicht nur bei den angehenden Medizinern, sondern auch bei Schäfer selbst und seinen Kollegen eine dermaßen große Begeisterung, dass man sich fragte: Wieso nehmen wir uns die erfundene Abteilung für medizinische Diagnostik am erfunden Lehrkrankenhaus Princeton-Plainsboro nicht darin zum Vorbild, sich die schwierigsten Fälle mit den besten Köpfen gemeinsam anzusehen? Diese Synergien zu erzeugen kostet Zeit und Geld, denn so korrekt die Fälle bei „Dr. House“ auch dargestellt sind – eine hauptberufliche Tätigkeit mehrerer Ärzte als reine Diagnostiker ist die größte Fiktion der Serie. Jürgen Schäfers Projekt wurde nur umsetzbar durch eine Stiftungsprofessur der Dr. Reinfried Pohl-Stiftung, die ihm die Möglichkeit eröffnet, sich aus dem operativen Tagesgeschäft weit genug rausziehen zu können. Einmal gegründet, überrollten die Fälle die Klinik in einer Taktzahl, die den Medizinern in Zusammenarbeit mit der EDV so wenig Luft ließ, dass erst heute die Einrichtung eines komplett elektronischen Verfahrens der Patientenverwaltung in Gang kommt. Hierfür startete die Rhön Klinikum AG eine Kooperation mit dem Watson Health Anbieter IBM, deren Ziel es ist, das ZusE-Team bei der Aufarbeitung der mehr als 6.000 Hilfeersuchen mittels modernster Computertechnologie zu unterstützen. Angefacht wurde der Andrang auch durch ein Buch, das Schäfer 2015 auf den Markt brachte: „Der Krankheitsermittler. Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten helfen.“ Schon drei Jahre zuvor hatte er in „House-Medizin“ die Fälle der Serie erläutert, allerdings nicht als Bestseller für die Masse, sondern im Fachverlag Wiley-VCH. Der Ermittler- Titel im Großverlag Droemer Knaur hingegen erweckte eine breite Aufmerksamkeit. Populäre Wochenmagazine waren zu Gast in Marburg, Schäfer fand sich bei Markus Lanz wieder, der WDR drehte eine Reportage. Für Schäfer eine ambivalente Angelegenheit, weil er auf der einen Seite nicht möchte, „dass wir den Ansturm der Patienten gar nicht mehr bewältigen können und Hoffnungen wecken, die wir aufgrund der großen Zahl nicht erfüllen können“, auf der anderen Seite aber der Öffentlichkeit und Gesundheitspolitik ins Gewissen reden möchte, dass es in Deutschland mehr Mittel für die Disziplin reiner, tiefgründiger Diagnostik geben muss. „Wir sind eines der hochentwickeltsten Länder, haben die hellsten Köpfe und die besten technischen Möglichkeiten“, sagt er, „ein insgesamt tolles Gesundheitssystem, in dessen Krankenhäusern man bestens aufgehoben ist. Aber Menschen mit unklaren und seltenen Erkrankungen fallen leicht durch die Maschen. Hier braucht es Anlaufstellen, die sich kümmern. Das sind wir den Patienten schuldig.“ Möglich wäre es, denn „niemand von uns ist wie Gregory House aus der Serie ein einzigartiges, wahnsinniges Genie.“ Daher war Schäfer bei der Originalfassung seines Buches auch nicht ganz so glücklich darüber, mit dem Titel „Der Krankheitsermittler“ alleine auf dem Cover abgebildet zu sein. Personenkult in der Medizin schaudert ihn und entspreche nicht der Wahrheit. „Kein noch so guter Herzchirurg könnte ohne OP-Schwester operieren, und ohne gewissenhafte Reinigungskräfte ist kein Krankenhaus überlebensfähig.“ Für die Taschenbuchausgabe überzeugte er den Verlag vom Plural. Nun heißt das Buch „Die Krankheitsermittler. Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten helfen“, und auf dem Cover läuft das Team gemeinsam der Kamera entgegen.

Das UKGM

Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) ist ein Krankenhaus der „Maximalversorgung“ und deckt somit das gesamte Spektrum der modernen Medizin ab, bis hinein in Spezialgebiete wie die Augenheilkunde oder die Zahnmedizin. Das mit 9.600 Mitarbeitern und zwei Standorten (Gießen und Marburg) drittgrößte Universitätsklinikum Deutschlands wurde 2006 privatisiert und zu 95 Prozent von der Rhön-Klinikum AG übernommen. Das Land Hessen hält lediglich 5 Prozent. Neben herausragender medizinischer Forschung, Lehre, Diagnostik und Therapie kooperierte das UKGM mit der Industrie, um Produkte und Leistungen zu entwickeln, die in die Therapie der Patienten einfließen.

Das Gedankenpassspiel

Als eines von wenigen Magazinen dürfen wir heute an einer der berühmten Teamsitzungen teilnehmen; ohne Details der anonym besprochenen Fälle zu berichten, selbstverständlich. Der Sitzungsraum ist rund 15 Grad kühler klimatisiert als der Rest des Hauses. Die brütende, stehende Luft des tropischen deutschen Septembers bleibt vor den Fenstern. An einem Laptop sitzt Schäfers Mitarbeiter Dr. Tobias Müller und projiziert per Beamer die Webseite unseres Magazins auf die Wand. „Wir haben heute die Galore in unserer Galeere zu Gast“, scherzt Schäfer, als er die Kollegen über die Situation aufklärt und nach ihrer Zustimmung für Fotoaufnahmen fragt. Dr. Müller lacht und stellt das Bild auf ein Eingangsmenü zur Eingabe der Patientendaten um. Man sammelt sich, rückt Stifte und Notizbücher zurecht, es geht los. Dr. Julia Sharkova, eine erfahrene Internistin und Mitarbeiterin des ZusE, stellt den ersten Fall vor und diktiert die Symptome, die Müller rasend schnell eintippt. Links neben uns hat ein Arzt Fachbücher und Nachschlagewerke aus allen Bereichen vor sich ausgebreitet, als wäre dieses Sinnbild der Zusammenarbeit aller Disziplinen so geplant gewesen. Konzentriert blättert er in der schweren Kost, die Seiten eines Buches rascheln so dünn wie die eines Kirchengesangsbuchs. Alle anderen Mitglieder bevorzugen die zur Verfügung gestellten Tablets. Als sämtliche Symptome vorgetragen sind, beginnt die Diskussion. Dialoge, die ein Laie höchstens bruchstückhaft versteht. Thesen, Antithesen, Argumente, Gegenargumente und Schlussfolgerungen. Man muss an die berühmten Worte denken, mit denen Michelangelo die Bildhauerei beschrieben hat. Wolle er aus einem Felsblock einen Löwen erschaffen, müsse er doch nur „alles wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht.“ In beeindruckendem Tempo schlagen die Mediziner alles weg, was als Diagnose nicht in Frage kommt, bis sich die ersten Formen der möglichen Lösung abzeichnen. Unterstützt wird das hocheffiziente Brainstorming von einer Software, die Dr. Müller am Laptop öffnet: Isabel Health. In diese englischsprachige Datenbank gibt man die Symptome des Patienten ein, woraufhin das Programm auf der rechten Seite Vorschläge möglicher Erkrankungen macht. In einem der vier Fälle, die heute besprochen werden, steht die Lösung in der Liste der Vorschläge tatsächlich an dritter Stelle. Dass sie richtig ist, steht außer Frage, da es dem Team gelingt, diesen Fall zu lösen. „Es passt alles“, nickt der stellvertretende Leiter des ZusE, Dr. Andreas Jerrentrup nach nur 15 Minuten der Diskussion. Die Therapiemaßnahmen werden eingetragen; ein Mensch, dessen Symptomen sämtliche Ärzte zuvor ratlos gegenüberstanden, wird bald endlich erfahren, was ihm sehr wahrscheinlich fehlt. Für die anderen drei Fälle beschließt man weitere, dringend in die Wege zu leitende Untersuchungen. Ohne den überragenden menschlichen Geist mehrerer Top- Mediziner wäre die Software hilflos, aber beim Herausmeißeln der denkbaren Möglichkeiten hilft sie ungemein. Nach 90 Minuten Sitzung glaubt man Jürgen Schäfer zwar immer noch, dass derlei mit entsprechenden Mitteln auch an anderen Unikliniken möglich wäre, doch beweist das geniale gedankliche Passspiel seines Teams dennoch, dass es auch in der Medizin Abstufungen von der Kreisklasse bis zur Champions League gibt.

Der Kaliumkanal

Das Gebäude des Universitätsklinikums Gießen- Marburg sieht erst zur Hälfte nach Champions League aus. Zurzeit wird restauriert, der Übergangszustand ist eine Collage aus verschiedenen Zeitaltern und Baustilen. In der derzeitigen Eingangshalle, eigentlich der Osteingang, wähnt man sich fast in einer Wellness-Klinik, so freundlich flutet das Licht das Foyer. Die Stimmung ist gelöst, Rollkoffer rasseln über den Boden. Der Gebäudeteil, in dem Jürgen Schäfer sein kleines Büro hat, und erst recht die Katakomben des Labors, erinnern mit ihren finsteren Gängen und verwinkelten Treppenhäusern an Architekturdelikte wie die Ruhr-Universität Bochum. Labyrinthe des Brutalismus, wie sie bis in die Achtzigerjahre hinein entstanden.

„Niemand von uns ist wie Gregory House aus der Serie ein einzigartiges, wahnsinniges Genie.“
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Doch so finster diese Räume auch sein mögen – hier werden Leben zum Guten verändert. Zurück im Labor berichten Schäfer und Laborwissenschaftler Dr. Ruppert von einem Fall, der sie besonders froh und stolz macht. „Wir hatten einen Patienten, der seit mehr als 50 Jahren immer wieder von einem auf den anderen Moment vollständig gelähmt war, meistens gegen Nachmittag. War er zu Hause, konnte er gerade noch spüren, wie es losgeht, und sich auf ein Sofa retten. War er unterwegs, sank er einfach auf den Boden und lag dann dort 30 Minuten handlungsunfähig. Das müssen Sie sich mal vorstellen! 30 Minuten!“ Man merkt Jürgen Schäfer das Mitgefühl an, das er heute noch mit dem Patienten empfindet. „Er erzählte uns, wie ihn diese Lähmung einmal bei einem Waldspaziergang überfiel. Da lag er dann im Gras und die Ameisen krabbelten quer über sein Gesicht, ohne dass er etwas tun oder nach jemandem rufen konnte.“ Die Ursache für diesen Horror, den sich ein sadistischer Regisseur hätte ausdenken können, stellt einen jener spektakulären Fälle dar, in denen Schäfers Team mithilfe des Marburger Physiologen Niels Decher sowie des Neurologen Richard Dodel tatsächlich als erste Einrichtung auf der Welt eine Diagnose stellte, die zuvor in dieser Form noch nie in der Fachliteratur aufgetaucht ist. „Der Mann litt unter einer bislang unbekannten Mutation des Kaliumkanals“, erklärt Dr. Ruppert und öffnet auf seinem Bildschirm ein unspektauklär wirkendes Balkendiagramm, das den Unterschied zwischen den mutierten und normalen Kaliumkanälen zeigt. Kaliumkanäle sind Transmembranproteine menschlicher Körperzellen, die bestimmen, wie viel Kalium die Zelle aufnimmt, wie verschieden große Poren. Werden diese „Poren“ zu groß, schluckt die Zelle zu viele Kaliumionen, was die Erregbarkeit der Nervenfaser verändert und so zu Bewegungsstörungen und Lähmungen führen kann. „Einmal entdeckt, lässt sich das mittlerweile gut behandeln, im konkreten Fall hat es nur lediglich ein wenig Entwässerungsmittel für die Kaliumsenkung gebraucht“, sagt Schäfer und erinnert sich daran, wie der Mann schon beim ersten Anschlagen seiner Behandlung „von der Klinik durch den Wald rauf bis zu einem Aussichtspunkt und danach wieder zurück lief, nach 50 Jahren endlich wieder frei.“ An diesem Tag war das Marburger Uniklinikum tatsächlich ein „Zauberberg“.

„Kein noch so guter Herzchirurg könnte ohne OP-Schwester operieren.“
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Placebo und Parasiten

Trotz all dieser Leistungen ist es Jürgen Schäfer wichtig zu betonen, dass selbst sein Team nicht alles lösen kann. Auf der Webseite steht: „Keiner von uns ist Dr. House. Auch wenn wir uns medizinisch nach besten Kräften und unter Einsatz aller Möglichkeiten (…) bemühen, so haben auch wir Fälle, bei denen wir keine befriedigende Diagnose finden.“ Ebenfalls klärt die Eingangsseite darüber auf, dass es am ZusE weder eine Sprechstunde im herkömmlichen Sinne noch ambulante oder stationäre Termine gibt. „Eine direkte, persönliche Vorstellung oder eine Selbsteinweisung ist nicht möglich.“ Die Fälle werden nach Dringlichkeit behandelt, manchmal relativ rasch, in vielen Fällen erst nach jahrelanger Wartezeit. Eine Situation, die für alle unerträglich ist, für die Mitarbeiter im ZusE-Team, vor allem aber für die hilfesuchenden Patienten. „Wir können nicht mehr als arbeiten und fühlen uns oft wie Hamster im Laufrad“, sagt Schäfer. Die Hoffnungen ruhen auf dem speziell für das ZusE ins Leben gerufenen Watson-Projekt, aber auch auf einem Umdenken in der Gesundheitspolitik. Dort wird – auch dank der Marburger – die Not vieler Menschen mit seltenen Erkrankungen mittlerweile ernst genommen und an Lösungen gearbeitet.

Dr. Volker Ruppert im Labor. Bei der die Vervielfältigung von DNA-Strängen zur besseren Analyse ist neben High Tech auch eine ruhige Hand gefragt.

Unser Besuch endet mit einem Gespräch im Büro Jürgen Schäfers, das zum Abschluss die an diesem Ort der High-Tech-Apparatemedizin sehr fern wirkende Alternativmedizin ausloten soll. Fazit: In der Behandlung hat Schäfer keine Probleme mit Methoden abseits der Schulmedizin. Was hilft, hilft. Es sei vermessen zu glauben, dass man als Schulmediziner schon alles wisse. Problematisch wird es in der Alternativmedizin, wenn „manche, zum Glück bei weitem nicht alle, Heilpraktiker durch Handauflegen behaupten zu wissen, was dem Patienten fehlt und ihn daraufhin finanziell ausnehmen und zudem noch verunsichern.“ Die vor allem in alternativmedizinischen Kreisen vertretene und etwa von dem deutschen Entomologen Günther Enderlein (1872-1968) sowie der russischen Chemikerin Tamara Lebedewa (*1938) aufgestellte These, Krebs werde in Wahrheit von Parasiten verursacht, stellt ein gutes Beispiel für die Tendenz der Alternativen dar, „pauschale Antworten“ zu finden, die es „in der Medizin niemals“ gebe. Tamara Lebedewa beobachtete, dass sich die Krebserkrankung in ihrer Familie wie eine Ansteckung ausbreitete, was sie dazu veranlasste, an Parasiten als Auslöser zu glauben. Heute weiß man, dass bei familiären Krebsformen vor allem die Erbanlagen eine große Rolle spielen. Familiäre Häufungen können natürlich auch durch schädliche Effekte im Lebensumfeld auftreten, mit Parasiten habe das, so Schäfer, in der Regel nichts zu tun. Aber auch Viren können bei der Entstehung mancher Krebsarten eine Rolle spielen. Der Virologe Prof. Dr. Harald zur Hausen konnte nachweisen, dass das humane Papillomvirus Gebärmutterhalskrebs erzeugen kann und erhielt dafür 2008 den Nobelpreis. Mindestens ein „echter“ Parasit ist außerdem mittlerweile auch als Übeltäter ausgemacht, der in Folge des von ihm angerichteten Schadens Krebs auslösen kann. Der Pärchenegel, diesmal in der Form Schistosoma haematobium, der in Teilen Afrikas, des Orients und Indiens vorkommt und sich nicht im Darm, sondern in der Harnblase niederlässt. Dort kann dieser Parasit tatsächlich Blasenkrebs auslösen! Der Kreis schließt sich.

Bei der Abfahrt vom „Zauberberg“ des UKGM beobachtet man an sich selbst drei Emotionen. Erstens: Die Beruhigung, dass es ein Team wie dieses gibt, das im Fall der Fälle nicht zwingend, aber wahrscheinlich Rat weiß. Zweitens: Den Ärger darüber, dass für mehr Teams dieser Art durch den Aufbau des deutschen Gesundheitssystems ohne solvente Mäzene oder visionäre Klinikbetreiber kein Platz ist. Und drittens: Das Erstaunen darüber, dass der fiktionale Dr. House und sein perfekt designtes Princeton-Plainsboro im Geiste den dunklen Marburger Fluren mit den hellen Geistesblitzen Platz gemacht hat.

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Zur Person

Jürgen Schäfer wurde 1956 in Karlsruhe geboren und studierte Medizin in Marburg und Frankfurt. Ende der Achtzigerjahre arbeitete er vier Jahre lang in der Forschung an den National Institutes of Health (NIH), in Bethesda, Maryland in den USA. 1996 habilitierte er sich für die Innere Medizin. Seit 2004 ist er Akademischer Direktor der Philipps- Universität Marburg. 2005 besetzte er die erste jemals gegründete Professur für Präventive Kardiologie. 2010 wurde er mit dem Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre und 2013 mit dem Pulsus Award als Arzt des Jahres ausgezeichnet. 2013 wurde das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE) am Marburger Uniklinikum gegründet, das Schäfer seitdem leitet.

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