Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen

September 2016 / Seite 3 von 3

Der Kaliumkanal

Das Gebäude des Universitätsklinikums Gießen- Marburg sieht erst zur Hälfte nach Champions League aus. Zurzeit wird restauriert, der Übergangszustand ist eine Collage aus verschiedenen Zeitaltern und Baustilen. In der derzeitigen Eingangshalle, eigentlich der Osteingang, wähnt man sich fast in einer Wellness-Klinik, so freundlich flutet das Licht das Foyer. Die Stimmung ist gelöst, Rollkoffer rasseln über den Boden. Der Gebäudeteil, in dem Jürgen Schäfer sein kleines Büro hat, und erst recht die Katakomben des Labors, erinnern mit ihren finsteren Gängen und verwinkelten Treppenhäusern an Architekturdelikte wie die Ruhr-Universität Bochum. Labyrinthe des Brutalismus, wie sie bis in die Achtzigerjahre hinein entstanden.

„Niemand von uns ist wie Gregory House aus der Serie ein einzigartiges, wahnsinniges Genie.“
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Doch so finster diese Räume auch sein mögen – hier werden Leben zum Guten verändert. Zurück im Labor berichten Schäfer und Laborwissenschaftler Dr. Ruppert von einem Fall, der sie besonders froh und stolz macht. „Wir hatten einen Patienten, der seit mehr als 50 Jahren immer wieder von einem auf den anderen Moment vollständig gelähmt war, meistens gegen Nachmittag. War er zu Hause, konnte er gerade noch spüren, wie es losgeht, und sich auf ein Sofa retten. War er unterwegs, sank er einfach auf den Boden und lag dann dort 30 Minuten handlungsunfähig. Das müssen Sie sich mal vorstellen! 30 Minuten!“ Man merkt Jürgen Schäfer das Mitgefühl an, das er heute noch mit dem Patienten empfindet. „Er erzählte uns, wie ihn diese Lähmung einmal bei einem Waldspaziergang überfiel. Da lag er dann im Gras und die Ameisen krabbelten quer über sein Gesicht, ohne dass er etwas tun oder nach jemandem rufen konnte.“ Die Ursache für diesen Horror, den sich ein sadistischer Regisseur hätte ausdenken können, stellt einen jener spektakulären Fälle dar, in denen Schäfers Team mithilfe des Marburger Physiologen Niels Decher sowie des Neurologen Richard Dodel tatsächlich als erste Einrichtung auf der Welt eine Diagnose stellte, die zuvor in dieser Form noch nie in der Fachliteratur aufgetaucht ist. „Der Mann litt unter einer bislang unbekannten Mutation des Kaliumkanals“, erklärt Dr. Ruppert und öffnet auf seinem Bildschirm ein unspektauklär wirkendes Balkendiagramm, das den Unterschied zwischen den mutierten und normalen Kaliumkanälen zeigt. Kaliumkanäle sind Transmembranproteine menschlicher Körperzellen, die bestimmen, wie viel Kalium die Zelle aufnimmt, wie verschieden große Poren. Werden diese „Poren“ zu groß, schluckt die Zelle zu viele Kaliumionen, was die Erregbarkeit der Nervenfaser verändert und so zu Bewegungsstörungen und Lähmungen führen kann. „Einmal entdeckt, lässt sich das mittlerweile gut behandeln, im konkreten Fall hat es nur lediglich ein wenig Entwässerungsmittel für die Kaliumsenkung gebraucht“, sagt Schäfer und erinnert sich daran, wie der Mann schon beim ersten Anschlagen seiner Behandlung „von der Klinik durch den Wald rauf bis zu einem Aussichtspunkt und danach wieder zurück lief, nach 50 Jahren endlich wieder frei.“ An diesem Tag war das Marburger Uniklinikum tatsächlich ein „Zauberberg“.

„Kein noch so guter Herzchirurg könnte ohne OP-Schwester operieren.“
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Placebo und Parasiten

Trotz all dieser Leistungen ist es Jürgen Schäfer wichtig zu betonen, dass selbst sein Team nicht alles lösen kann. Auf der Webseite steht: „Keiner von uns ist Dr. House. Auch wenn wir uns medizinisch nach besten Kräften und unter Einsatz aller Möglichkeiten (…) bemühen, so haben auch wir Fälle, bei denen wir keine befriedigende Diagnose finden.“ Ebenfalls klärt die Eingangsseite darüber auf, dass es am ZusE weder eine Sprechstunde im herkömmlichen Sinne noch ambulante oder stationäre Termine gibt. „Eine direkte, persönliche Vorstellung oder eine Selbsteinweisung ist nicht möglich.“ Die Fälle werden nach Dringlichkeit behandelt, manchmal relativ rasch, in vielen Fällen erst nach jahrelanger Wartezeit. Eine Situation, die für alle unerträglich ist, für die Mitarbeiter im ZusE-Team, vor allem aber für die hilfesuchenden Patienten. „Wir können nicht mehr als arbeiten und fühlen uns oft wie Hamster im Laufrad“, sagt Schäfer. Die Hoffnungen ruhen auf dem speziell für das ZusE ins Leben gerufenen Watson-Projekt, aber auch auf einem Umdenken in der Gesundheitspolitik. Dort wird – auch dank der Marburger – die Not vieler Menschen mit seltenen Erkrankungen mittlerweile ernst genommen und an Lösungen gearbeitet.

Dr. Volker Ruppert im Labor. Bei der die Vervielfältigung von DNA-Strängen zur besseren Analyse ist neben High Tech auch eine ruhige Hand gefragt.

Unser Besuch endet mit einem Gespräch im Büro Jürgen Schäfers, das zum Abschluss die an diesem Ort der High-Tech-Apparatemedizin sehr fern wirkende Alternativmedizin ausloten soll. Fazit: In der Behandlung hat Schäfer keine Probleme mit Methoden abseits der Schulmedizin. Was hilft, hilft. Es sei vermessen zu glauben, dass man als Schulmediziner schon alles wisse. Problematisch wird es in der Alternativmedizin, wenn „manche, zum Glück bei weitem nicht alle, Heilpraktiker durch Handauflegen behaupten zu wissen, was dem Patienten fehlt und ihn daraufhin finanziell ausnehmen und zudem noch verunsichern.“ Die vor allem in alternativmedizinischen Kreisen vertretene und etwa von dem deutschen Entomologen Günther Enderlein (1872-1968) sowie der russischen Chemikerin Tamara Lebedewa (*1938) aufgestellte These, Krebs werde in Wahrheit von Parasiten verursacht, stellt ein gutes Beispiel für die Tendenz der Alternativen dar, „pauschale Antworten“ zu finden, die es „in der Medizin niemals“ gebe. Tamara Lebedewa beobachtete, dass sich die Krebserkrankung in ihrer Familie wie eine Ansteckung ausbreitete, was sie dazu veranlasste, an Parasiten als Auslöser zu glauben. Heute weiß man, dass bei familiären Krebsformen vor allem die Erbanlagen eine große Rolle spielen. Familiäre Häufungen können natürlich auch durch schädliche Effekte im Lebensumfeld auftreten, mit Parasiten habe das, so Schäfer, in der Regel nichts zu tun. Aber auch Viren können bei der Entstehung mancher Krebsarten eine Rolle spielen. Der Virologe Prof. Dr. Harald zur Hausen konnte nachweisen, dass das humane Papillomvirus Gebärmutterhalskrebs erzeugen kann und erhielt dafür 2008 den Nobelpreis. Mindestens ein „echter“ Parasit ist außerdem mittlerweile auch als Übeltäter ausgemacht, der in Folge des von ihm angerichteten Schadens Krebs auslösen kann. Der Pärchenegel, diesmal in der Form Schistosoma haematobium, der in Teilen Afrikas, des Orients und Indiens vorkommt und sich nicht im Darm, sondern in der Harnblase niederlässt. Dort kann dieser Parasit tatsächlich Blasenkrebs auslösen! Der Kreis schließt sich.

Bei der Abfahrt vom „Zauberberg“ des UKGM beobachtet man an sich selbst drei Emotionen. Erstens: Die Beruhigung, dass es ein Team wie dieses gibt, das im Fall der Fälle nicht zwingend, aber wahrscheinlich Rat weiß. Zweitens: Den Ärger darüber, dass für mehr Teams dieser Art durch den Aufbau des deutschen Gesundheitssystems ohne solvente Mäzene oder visionäre Klinikbetreiber kein Platz ist. Und drittens: Das Erstaunen darüber, dass der fiktionale Dr. House und sein perfekt designtes Princeton-Plainsboro im Geiste den dunklen Marburger Fluren mit den hellen Geistesblitzen Platz gemacht hat.

Zur Person

Jürgen Schäfer wurde 1956 in Karlsruhe geboren und studierte Medizin in Marburg und Frankfurt. Ende der Achtzigerjahre arbeitete er vier Jahre lang in der Forschung an den National Institutes of Health (NIH), in Bethesda, Maryland in den USA. 1996 habilitierte er sich für die Innere Medizin. Seit 2004 ist er Akademischer Direktor der Philipps- Universität Marburg. 2005 besetzte er die erste jemals gegründete Professur für Präventive Kardiologie. 2010 wurde er mit dem Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre und 2013 mit dem Pulsus Award als Arzt des Jahres ausgezeichnet. 2013 wurde das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE) am Marburger Uniklinikum gegründet, das Schäfer seitdem leitet.

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