Gratis-Interview  Zartbitter e.V

Zartbitter e.V

Glauben, schützen, helfen.

Fotos
  • Marina Weigl
Leserbewertung

Seit mehr als 30 Jahren existiert der Verein Zartbitter Köln als Informations- und Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen. Es ist eine der ältesten Fachberatungsstellen in Deutschland, die sowohl weiblichen als auch männlichen Opfern Hilfe anbietet. Die Leiterin des Vereins, Ursula Enders, war von Anfang an dabei und blickt auf eine bewegte Berufslaufbahn in einem manchmal belastenden Umfeld zurück. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Nicht zuletzt durch ihre Arbeit ist in den Medien und in der Gesellschaft in den letzten Jahren ein öffentliches Bewusstsein geschaffen worden, das für ein wichtiges und allgegenwärtiges Thema sensibilisiert.

GALORE

Als Ursula Enders 2002 einmal im Rahmen eines Selbstversuchs zwei Jahre lang als Mädchen im Internet unterwegs gewesen ist, bekam sie es mit einer erschreckenden Wirklichkeit zu tun, die den meisten Menschen auch deswegen verborgen bleibt, weil sie sich gleichzeitig sehr nah und unglaublich fern von ihrem täglichen Leben abspielt. „Ich habe mich als Susie, zwölf Jahre, ausgegeben und praktisch alles erlebt“, sagt die Pädagogin. „Ich war zwar lediglich in Kinderchaträumen, aber es dauerte bloß Sekunden, bis mir ein Dutzend Männer und junge Erwachsenen ihre exhibitionistischen Bilder geschickt haben und fragten, ob ich das geil fände.“ Es sind Berichte wie diese, aus denen der Stoff von Eltern-Albträumen gemacht ist. Enders kennt sie alle, denn mit ihrem Verein Zartbitter Köln engagiert sie sich bereits seit 1987 gegen die unterschiedlichsten Formen von Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Dabei hat sie gelernt, bei einem Thema hinzuschauen, bei dem andere eher zum Wegschauen neigen. Nicht notwendigerweise aus Absicht, sondern oft auch aus Scham, Verunsicherung, Überforderung und Hilflosigkeit. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist bis heute – zumindest zum Teil – ein Tabu, an dem schon das Vokabular verzweifeln kann. Der Begriff Missbrauch etwa suggeriert implizit einen korrekten „Gebrauch“ eines Menschen, der trotz seiner Minderjährigkeit nicht nur mit Gedanken, Gefühlen und einem eigenen Willen ausgestattet ist, sondern auch mit unveräußerlichen Rechten. Es gibt eine verschleiernde Sprache, die das Erleben von sexualisierter Gewalt in eine abstrakte Sphäre rückt, die Schweigen und Stillhalten erleichtert. Zartbitter hat sich nicht nur der Opferhilfe und der Prävention verschrieben, sondern auch der Aufklärungsarbeit, und wenn man sich mit Ursula Enders an einen Tisch setzt, bekommt man ein Gespür dafür, wie das klingen kann.

„Wir hatten früher sehr viel mehr mit Missbrauch in Familien zu tun, weil diese Fälle früher öfters bekannt wurden“, sagt sie. „Seit Ende der Neunziger ist der klassische Fall jedoch der, dass wir in Fällen sexualisierter Gewalt durch Kinder und Jugendliche in Schulen und Kindertageseinrichtungen um Unterstützung gebeten werden. Lehrerinnen und Erzieher kommen auf uns zu und berichten etwa, dass es in ihrer sechsten Klasse sexuelle Übergriffe gegeben hat. Schule als Tatort – das erleben wir immer wieder.“ Diese Feststellung mag verwundern, aber sie überrascht nicht, wenn man sich so wie Enders sachlich mit einem Themenfeld auseinandersetzt, das vielen Medien nur die großen Schlagzeilen wert ist – oder eben gar keine. Ohne ein Schreckgespenst an die Wand zu malen: Sowohl das Bild sexueller Übergriffigkeit als auch deren Ursachen stehen in einem Missverhältnis zur herkömmlichen Berichterstattung, die dringend der Korrektur bedarf. Und wichtiger noch: der Einmischung. Pro Jahr gibt es in Köln und Umgebung etwa 500 bis 600 Fälle, die bei Zartbitter vorstellig werden und bei denen der Verein dabei hilft, Vermutungen abzuklären und gegebenenfalls eine langfristige Beratung zu vermitteln. Übergriffe durch Kinder und Jugendliche stellen dabei mehr als die Hälfte der Fälle, darunter zunehmend solche, in denen sexuelle Übergriffe von Mädchen verübt wurden. Diese sogenannte Peer-Gewalt wird in Enders’ Erfahrung im Wesentlichen durch die Tatsache begünstigt, dass Kinder und Jugendliche in entscheidenden Phasen ihrer sozialen Entwicklung auf sich selbst gestellt sind. „Die Ursache sexualisierter Gewalt ist einmal eine selbst erlebte Gewalterfahrung, die wiedergegeben wird, weil sie nicht verarbeitet wurde“, sagt Ursula Enders. „Viele der übergriffigen Kinder haben zuvor ihrerseits Übergriffe durch ältere Kinder erlebt, in der Kita, in der Nachbarschaft. Das hat oft nichts mit der Familie zu tun. Es kann auch der Missbrauch durch Erwachsene sein, was allerdings weniger oft der Fall ist. Das zweite ist, dass wir keine Grenzen achtenden Gesellschaftsnormen haben. Dass Erwachsene, wenn es leise Grenzverletzungen gibt, gerne so etwas sagen wie ‚Regelt das doch unter euch.’ Für uns stellt sich hier regelmäßig die Frage: Ist die Ursache eine psychische Belastung von ein oder zwei Kindern, die dann in der Schule übergriffig werden? Oder gibt es in dieser Klasse insgesamt eine Kultur der Grenzverletzung? Wir haben es häufig mit einer sehr sexistischen Atmosphäre zu tun und dass dann durch sexualisierte Gewalt die Gruppenhierarchie bestimmt wird: Wer hat das meiste hier zu sagen? Deswegen erleben wir sehr viel sexualisierte Gewalt im ersten Schuljahr und in den Klassen 5 und 6, also immer dann, wenn Gruppen sich neu zusammensetzen, und wenn die Mitglieder dieser Gruppen am meisten auf sich selbst gestellt sind. Das ist wohlgemerkt keine neue Entwicklung, sondern nur eine, die zunehmend ins Bewusstsein rückt. Wir als Fachberatungsstelle klären dann zunächst ab: Was brauchen die Betroffenen? Welche Hilfen muss es für die übergriffigen Mädchen und Jungen geben? Und als drittes: Was braucht die Gruppe?“

„Bei Kindern und Jugendlichen sind die Selbstheilungskräfte immens – wenn sie die richtige Hilfe bekommen.“

Keine Panik

In der Arbeit von Zartbitter hat sich dabei in den letzten Jahrzehnten ein Dreiklang herauskristallisiert, auf dem Hilfe und Unterstützung und nicht zuletzt die Aufklärungsarbeit basieren. Glauben, schützen, helfen – ein direktes, kleinteiliges, flexibles und fallspezifisches Verfahren, mit dem der Verein den Betroffenen sofort und auch langfristig zur Seite stehen kann. „Glauben heißt: Wenn mir ein Mädchen, ein Junge etwas erzählt, dann höre ich zu“, sagt Enders, die in ihrer ruhigen und gelassenen Erscheinung professionelle Expertise und hohe Empathie vereint. „Wir führen kein gemeinsames Gespräch mit allen Beteiligten. Wir führen Einzelgespräche und hören zu, denn sobald wir eine Gruppensituation schaffen, können viele nicht mehr alles erzählen. Als nächstes müssen wir schützen. Wir müssen dafür sorgen, dass ein Junge, der beispielsweise von einem Klassenkameraden vergewaltigt worden ist, nicht mehr mit dem in einer Klasse sein muss, sondern dass der Junge, der vergewaltigt hat, in eine andere Klasse kommt. Und schließlich muss ich Hilfen anbieten. Dazu gehören die Beratung für das betroffene Kind und eine traumapsychologische Stabilisierung. Letztlich müssen wir auch mit den Eltern arbeiten, die häufig einer noch größeren Belastung ausgesetzt sind als die Kinder selber. Eltern geben sich häufig einer Fantasie davon her, was alles passiert sein kann, und müssen erst einmal auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Die Vorstellung ‚Mein Kind behält jetzt lebenslange Folgen’ ist weit verbreitet. Und diese Vorstellung versetzt Eltern oft in so große Panik, dass dadurch noch mehr Leid entsteht. Hier müssen wir stattdessen Möglichkeiten der Heilung aufzeigen.“

„Kinder und Jugendliche können über Missbrauch reden, aber die Erwachsenen in der Regel nicht.“

Die Traumatherapeutin weiß: „In den Medien wird immer berichtet, dass Opfer unter Langzeitfolgen leiden. Dabei handelt es sich aber in der Regel um Berichte von Erwachsenen, die als Kind nicht geschützt und denen nicht geglaubt wurde. Wir arbeiten hier aber mit Kindern und Jugendlichen, und da sind die Selbstheilungskräfte immens – wenn sie die richtige Hilfe bekommen. Dabei behalten wir stets auch im Blick, welche Hilfen das sexuell übergriffige Kind braucht, was übrigens schon im Kindergartenalter vorkommen kann. Hier müssen wir auch darauf achten: Hat dieses Kind selbst sexualisierte Gewalt erlebt und spielt dieses Kind nach, worüber es nicht sprechen kann? Das kann eine Ursache sein, und sie liegt oftmals nicht in der Familie, sondern außerhalb.“ Zartbitter arbeitet bei der Abklärung solcher Fälle nicht nur mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen zusammen, sondern auch mit den Eltern, mit Lehrern und Lehrerinnen, Sozialarbeitern, Trainern, mit Nachbarn und Bekannten. Und mit Arbeitskollegen, etwa für den Fall, dass junge Frauen und Männer in der Ausbildung belästigt werden. „Es gibt die Ausnahme, dass Kinder auch kindertherapeutische Unterstützung brauchen, aber die wenigsten Kinder entwickeln langfristige Folgeproblematiken“, sagt Ursula Enders. „Viele betroffene Mädchen und Jungen brauchen keine langfristige Therapie, wenn sie nach dem Missbrauch wirksam geschützt werden. Sie brauchen stattdessen gezielte Hilfe, um etwa ihre Einschlafprobleme zu bewältigen. Und ihre Umwelt braucht eine Anleitung, ihnen zu helfen. Die Jugendlichen müssen Techniken erwerben, um Wiederbelebungen, Flashbacks stoppen zu können, doch das können sie oft in fünf, sechs Beratungsterminen lernen. Langzeitfolgen entwickeln in der Regel nur Mädchen und Jungen, die ohnehin vielen Belastungen ausgesetzt sind, denen nicht adäquat geglaubt wird, oder deren Aufdeckung von extremen Auseinandersetzungen belastet wird.“4

Auch deshalb arbeitet Zartbitter besonders intensiv in Schulklassen, in denen es zu sexuellen Übergriffen gekommen ist. „Kinder und Jugendliche vertrauen sich in der Regel erst einmal ihren Freunden und Freundinnen an, nicht den Erwachsenen“, sagt Enders. „Deshalb ist es wichtig, Angebote zu machen, bei denen sich auch Mädchen und Jungen an uns wenden können, denen der Freund oder die Freundin einen Hinweis gegeben hat. Das Miterleben ist dabei häufig genauso belastend wie selbst betroffen zu sein. Die zweite Vertrauensperson sind oftmals Erwachsene aus dem Umfeld und nur in den seltensten Fällen die Eltern. Tatsache ist: Mädchen und Jungen können sich ihren Eltern nicht anvertrauen, weil sie wissen, wie sehr die Eltern dadurch belastet werden, wenn sie das hören würden. Sie schweigen gegenüber den Eltern aus Liebe, und nicht, weil sie eine gestörte Beziehung zu ihren Eltern haben.“ Umso wichtiger sind daher die Vertrauenspersonen außerhalb des Elternhauses. Oft sind es Menschen, die sich als vertrauenswürdig erweisen, weil sie aktiv einschreiten, wenn sie beobachten, dass die Grenzen von Kindern verletzt werden. Das kann schon damit beginnen, dass jemand beobachtet, wie ein Kind gegen den eigenen Willen fotografiert wird, und sagt, dass das nicht in Ordnung ist. „Neben der Beratungsarbeit ist Präventionsarbeit ein Schwerpunkt bei uns. Wir leisten von Anfang an eine sehr lebensfrohe, unterstützende Präventionsarbeit, die Missbrauch und sexuelle Übergriffe klar benennt, aber keine Angst macht“, sagt Enders und spricht damit auf eine zentrale Säule ihrer Arbeit an. „Kinder und Jugendliche können über Missbrauch reden, aber die Erwachsenen in der Regel nicht. Kinder und Jugendliche wissen oft untereinander, wer sexualisierte Gewalt erlebt. Wenn sie sich jedoch an Erwachsene wenden, werden sie häufig abgewiesen, mit dem Hinweis, das doch ‚untereinander zu klären’.“

Rechte statt Regeln

Ein wesentlicher Punkt ist hier die Stärkung von persönlichen Rechten, die eben nicht nur für Erwachsene und in deren Beisein gelten, sondern auch in der Schule, auf dem Spielplatz oder überall sonst, wo der Anspruch eines Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit verletzt werden könnte. „Wir arbeiten deshalb verstärkt an Schutzkonzepten der jeweiligen Einrichtung und klären, inwieweit Rechte zum Schutz persönlicher Grenzen im pädagogischen Alltag berücksichtigt werden können“, sagt Enders. „Inwieweit sich die Institutionen auf einen Rechtekatalog einigen können, den die Kinder schon bei Eintritt in die Institution ausgehändigt bekommen. Mit dem Recht, sich zu beschweren, wenn ihre persönlichen Grenzen verletzt werden. Nur wer seine Rechte kennt, kann sie auch vertreten. Ein kindgerechtes Beschwerdemanagement wird in der pädagogischen Praxis leider noch so gut wie überhaupt nicht umgesetzt.“ Das ist auch deswegen ein Versäumnis, weil die Etablierung von Kinderrechten gewissermaßen die Bringschuld umkehrt und das Objektverhältnis auflöst: Statt einen aufoktroyierten Regelkatalog zu verordnen, an den sich jeder zu halten hat, werden explizit Rechte benannt, die das Kind zum Subjekt machen. „Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der jeweiligen Einrichtung erarbeiten wir die für sie relevanten Rechte“, erläutert die Zartbitter-Mitarbeiterin. „Wir erstellen Rechte, um dadurch die Solidarität innerhalb der Gruppe zu stärken, damit Betroffene mit Unterstützung ihrer Freundinnen und Freunde die Achtung ihrer persönlichen Grenzen einfordern können. Während Jugendliche sich für ihre Rechte und die anderer bereitwillig engagieren, missachten viele Erwachsene vorgegebene Regeln. Sobald pädagogische Fachkräfte auf deren Einhaltung bestehen, begegnet ihnen daher der Widerstand nicht weniger Jugendlicher. Auch wenn es eigentlich auf der Hand zu liegen scheint, in der Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt von den Kinderrechten auszugehen, ist dieser Ansatz in der Praxis noch nicht sehr verbreitet. Viele Fachkräfte begegnen diesem von Zartbitter vertretenen Präventionskonzept zunächst mit Erstaunen, sind jedoch später überzeugt: Es funktioniert und trägt zu einem grenzachtenden Umgang unter Kindern und Jugendlichen bei.“

„Wir können nicht sagen, dass durch die neuen Medien das Ausmaß der sexualisierten Gewalt gegen Kinder zugenommen hat.“

Dieser Ansatz ist umso sinnvoller, weil sich die Realität sexueller Übergriffe oft anders darstellt als in der Fantasie besorgter Eltern. „Wenn ich über den ‚Schwarzen Mann’ im Gebüsch rede, den es ja eh kaum gibt, dann werfe ich damit ein falsches Bild an die Wand“, weiß Enders. „Auch der Anteil der Väter an sexuell übergriffigen Tätern ist relativ gering. Dafür liegt der Schwerpunkt unserer Präventionsarbeit neben sexualisierter Peer-Gewalt – also Gewalt durch Gleichaltrige – heute immer öfter im Bereich sexualisierter Gewalt in den sozialen Medien. Dabei haben wir es zum Teil mit einem gesellschaftlich grenzwertigen Umgang mit Bildmaterial insgesamt zu tun. Wir können nicht sagen, dass durch die neuen Medien das Ausmaß der sexualisierten Gewalt gegen Kinder zugenommen hat. Aber wir hören zum Beispiel inzwischen sehr oft, dass jemand während einer Beziehung dazu überredet wird, sich vor der Kamera zu entkleiden. Endet dann die Beziehung, wird das Bildmaterial nicht selten aus Rache im Internet gepostet. Oder ein anderer Fall aus dem Beratungsalltag: Ein Schüler einer neunten Klasse wünscht sich eine Freundin, findet aber keine. Die Klassenkameraden, die Jungs, stellen daraufhin das Fake-Profil eines Mädchens ins Netz, äußern ein Interesse an ihm, halten Kontakt, überreden ihn nach einer Weile, sich vor der Kamera auszuziehen und zu befriedigen, und anschließend mailen sie dieses Video durch die ganze Schule, wodurch der Junge zum Gespött wird. Das ist ein neueres, besorgniserregendes Phänomen. Eine positive Entwicklung, die wir beobachten, ist hingegen, dass mittlerweile viele Kinder und Jugendliche für Opfer Partei ergreifen. Wir erleben auch, dass im Netz zunehmend eine Form der Selbstregulierung entsteht.“

Nie Angst machen, immer stärken

Um dieser Entwicklung Vorschub zu leisten, unterhält Zartbitter eine ganze Reihe von Projekten, die sich dem Thema sexueller Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen widmen und sich direkt an die potenziell Betroffenen und deren Umfeld wenden. Dazu gehören nicht nur klassische Broschüren, Comicgeschichten und andere gedruckte Aufklärungsmaterialien, sondern auch Hörspiele, Bilderbücher, Musik-CDs und zwei Theaterstücke, mit denen der Verein zuletzt besonderen Erfolg hatte. Das niederschwellige und inklusive Angebot richtet sich bereits an Kinder im Vorschulalter und folgt neben dem Informationsauftrag vor allem einer Richtlinie: nie Angst machen, immer stärken. Seit 1995 hat das Zartbitter-Tourneetheater mehr als 1,5 Millionen Gäste verzeichnen können und Informationsmaterial in zwölf Sprachen verteilt. Knapp 30.000 CDs werden pro Jahr nach den Theateraufführungen kostenlos an Kinder ausgehändigt, darunter das Liederalbum ‚Hilfe holen, das ist schlau!’ und das Theaterhörspiel ‚Ganz schön blöd’ unter Mitwirkung von Hella von Sinnen. Darin geht es sehr anschaulich um den Bruder eines Mädchens, der Nacktfotos von ihr, die er durchs Badezimmerfenster gemacht hat, ins Netz stellen will. Das wird verhindert durch Teugel, der halb Engel und halb Teufel ist und die Schutzengelprüfung bestehen muss, indem er Kindern zur Seite steht. „Jedes Kind, das das Theaterstück besucht, bekommt das Hörspiel mit und kann es sich zu Hause anhören“, sagt Ursula Enders. „Dadurch sind die Eltern miteinbezogen, die sich ansonsten nur schwer erreichen lassen. Diesen Dialog zwischen Eltern und Kindern müssen wir fördern. Eltern sollten ihren Kindern signalisieren, dass sie sich mit dem Thema beschäftigt haben, ohne über Gebühr alarmiert zu sein. Deswegen sollten es immer positive und lebensfrohe Materialien sein, die sie ihren Kindern zur Aufklärungsarbeit mitgeben. Das zweite: Eltern sollten ihre Söhne und Töchter fragen können: ‚Wenn jemand deine Rechte verletzt – wer würde dich unterstützen?’ Und dann – ganz wichtig – als erstes Freunde aufzählen lassen. Als nächstes fragen: ‚Und welche Erwachsenen?’ Und erst ganz zum Schluss: ‚Du weißt ja, ich würde auch zu dir halten.’ Aber nicht sagen: ‚Komm zu mir!’ Denn das funktioniert nicht.“

Letzten Endes liegt die große Stärke des Zartbitter-Ansatzes in der Öffentlichmachung der Problematik. Unverkrampft und enttabuisierend auf der einen Seite, bestärkend und souverän auf der anderen. „Man muss den Kindern durch die Leichtigkeit und Lebendigkeit quasi das Gespräch erleichtern, damit es selbstverständlich ist, dass man auch über Übergriffe reden darf“, sagt die Zartbitter-Mitarbeiterin. „Ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit besteht darin, das Bewusstsein bei Erwachsenen zu stärken, dass sie aktiv für den Schutz der Kinder verantwortlich sein können. Dazu gehört auch ein komplett illustrierter Verhaltenskodex für Erwachsene, damit Kinder auch Informationen darüber bekommen, was die Pflichten der Erwachsenen sind. Wir sind damit sehr kinderrechtlich-partizipativ aufgestellt, denn dadurch erleben Mädchen und Jungen, dass wir parteiisch sind. Sie spüren, dass wir Bescheid wissen.“ Ein anderer Punkt ist die wachsende Solidarität zwischen Kindern und Jugendlichen, die Zartbitter unter anderem mit seinen Theaterstücken kultivieren möchte. „Wie wollen damit einen Rahmen bieten, in dem Mädchen und Jungen, die über Erfahrungen sprechen möchten, auch darüber sprechen können“, sagt Enders. „Und erreichen, dass die, die nicht sprechen wollen, trotzdem durch die Solidarität der anderen Jugendlichen bestärkt werden. Unsere Theaterstücke werden oft von Kindern und Jugendlichen besucht, die selber sexualisierte Gewalt erlebt haben. Für die ist es oft eine Erlösung, mitzukriegen, wie 400 Kinder „Hör auf! Das ist gemein!“ rufen, wenn der Junge die Nacktfotos von dem Mädchen posten will. Letzten Endes gilt: Wenn ein Thema benannt wird, über das niemand spricht, und wenn man dann die Solidarität der anderen erlebt: Das ist Heilung. Für viele Kinder sind das schon 60 oder 70 Prozent dessen, was sie brauchen. Und das ist etwas, was die heute erwachsenen Betroffenen früher nie bekommen haben.“

Besprechbar machen

Wenn Ursula Enders in die Zukunft blickt, ist sie deswegen trotz ihrer bevorstehenden Pensionierung in mancher Hinsicht optimistisch. Sie kennt die Vergangenheit, und sie weiß um die zurückgelegte Strecke zur Gegenwart. „Als wir 1985 das erste überregionale Treffen zum Thema Missbrauch hatten, war es unser großes Ziel, dass der deutsche Bundestag einmal während unseres Lebens das Wort ‚sexueller Missbrauch’ in den Mund nimmt“, sagt sie. Das ist inzwischen geschehen. „Man kann sich angucken, wie viel noch im Argen liegt, man kann aber auch sehen, dass sich schon wahnsinnig viel verändert hat. Das Schönste ist für mich, dass Kinder und Jugendliche heute über das Thema sprechen und sich auch gegenseitig unterstützen können. Offen ist, dass noch die Erwachsenen lernen müssen.“ Auch die Medien müssen noch dazulernen. Zwar ist die Berichterstattung über die Jahre besser geworden, doch in puncto Sachlichkeit und Einfühlungsvermögen darf es auch gerne noch etwas mehr sein. „Ich wünsche mir von den Medien vor allem, dass sie sehr viel lösungsorientierter berichten“, sagt Enders. „Wir kriegen mit, dass es jedes Mal ein Rieseninteresse weckt, wenn die Medien über das Thema berichten und dabei gleichzeitig Möglichkeiten aufzeigen. Die Menschen machen dagegen dicht, wenn nur aufmerksamkeitsheischende Schreckensmeldungen kommen. Unser Ziel war es immer, das Thema besprechbar zu machen und die Menschen nicht durch Schockmeldungen abzuschrecken. Hier würde ich mir mehr positive Beispiele wünschen.“ Ansonsten spürt Enders, dass etliche Einrichtungen, Vereine und Verbände zunehmend offensiv mit dem Thema umgehen, anstatt zu versuchen, totzuschweigen, was eigentlich ins öffentliche Bewusstsein gehört. „Es zählt zu den positiven Entwicklungen, dass beispielsweise entwürdigende Aufnahmerituale bei Pfadfindern, Messdienern oder Sportvereinen stark zurückgegangen sind“, sagt sie. „Seit etwa zehn Jahren sind die Jugendverbände in diesen Punkten sehr viel aufmerksamer. Dieses Drama von wegen ‚Wir haben heute so viel mehr Fälle sexualisierter Gewalt!’ kann ich also überhaupt nicht teilen. Ich sehe im Gegenteil viele Bereiche, die besser geworden sind. Dazu gehört übrigens eindeutig auch die #MeToo-Bewegung, denn über sie ist ein breiteres Bewusstsein für Übergriffe geschaffen worden. Man kann immer darüber diskutieren, ob sich der Einzelne schuldig gemacht hat oder nicht, das ist gar nicht die Frage. Aber durch die Öffentlichkeit sind zunehmend auch junge Männer auf uns zugekommen, die gesagt haben: ‚Mir passiert das und das – ist das jetzt auch ein Übergriff?’ Und das finde ich einfach super. Zusammenfassend möchte ich betonen: Das Belastende an unserer Arbeit ist nicht das Thema. Das Belastende ist, dass es mitunter immer noch zu wenig therapeutische Hilfsangebote für betroffene Kinder gibt. Und es ist absolut hart, wenn man Kinder abweisen muss, die eigentlich Hilfe brauchen.“

Als GALORE-Abonnent*in erhalten Sie nicht nur sechs Ausgaben im Jahr frei Haus und eine Prämie, sondern auch kostenlosen Zugang zu unserem Online-Archiv mit mehr als 1100 Interviews - darunter auch die jeweils aktuellen.

Jetzt GALORE abonnieren

Zur Person

Ursula Enders wurde 1953 in Olpe geboren. Die Diplom-Pädagogin und Mitgründerin des Vereins Zartbitter e.V. widmet sich seit Anfang der Achtziger in unterschiedlichen Funktionen dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Enders arbeitet unter anderem als Traumatherapeutin, Erziehungswissenschaftlerin und Referentin und vertritt zusammen mit anderen Stellen die Interessen der Fachberatungsstellen auf bundespolitischer Ebene. Das von ihr in mehreren komplett überarbeiteten Neuauflagen herausgegebene Handbuch „Zart war ich, bitter war's“ gilt als Standardwerk für den Umgang mit sexualisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen, daneben fungiert sie als Autorin diverser Kinderbücher und Präventionsmaterialien. Ursula Enders lebt in Köln.

Teilen Sie dieses Interview: