Zartbitter e.V

August 2018 / Seite 2 von 2

Rechte statt Regeln

Ein wesentlicher Punkt ist hier die Stärkung von persönlichen Rechten, die eben nicht nur für Erwachsene und in deren Beisein gelten, sondern auch in der Schule, auf dem Spielplatz oder überall sonst, wo der Anspruch eines Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit verletzt werden könnte. „Wir arbeiten deshalb verstärkt an Schutzkonzepten der jeweiligen Einrichtung und klären, inwieweit Rechte zum Schutz persönlicher Grenzen im pädagogischen Alltag berücksichtigt werden können“, sagt Enders. „Inwieweit sich die Institutionen auf einen Rechtekatalog einigen können, den die Kinder schon bei Eintritt in die Institution ausgehändigt bekommen. Mit dem Recht, sich zu beschweren, wenn ihre persönlichen Grenzen verletzt werden. Nur wer seine Rechte kennt, kann sie auch vertreten. Ein kindgerechtes Beschwerdemanagement wird in der pädagogischen Praxis leider noch so gut wie überhaupt nicht umgesetzt.“ Das ist auch deswegen ein Versäumnis, weil die Etablierung von Kinderrechten gewissermaßen die Bringschuld umkehrt und das Objektverhältnis auflöst: Statt einen aufoktroyierten Regelkatalog zu verordnen, an den sich jeder zu halten hat, werden explizit Rechte benannt, die das Kind zum Subjekt machen. „Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der jeweiligen Einrichtung erarbeiten wir die für sie relevanten Rechte“, erläutert die Zartbitter-Mitarbeiterin. „Wir erstellen Rechte, um dadurch die Solidarität innerhalb der Gruppe zu stärken, damit Betroffene mit Unterstützung ihrer Freundinnen und Freunde die Achtung ihrer persönlichen Grenzen einfordern können. Während Jugendliche sich für ihre Rechte und die anderer bereitwillig engagieren, missachten viele Erwachsene vorgegebene Regeln. Sobald pädagogische Fachkräfte auf deren Einhaltung bestehen, begegnet ihnen daher der Widerstand nicht weniger Jugendlicher. Auch wenn es eigentlich auf der Hand zu liegen scheint, in der Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt von den Kinderrechten auszugehen, ist dieser Ansatz in der Praxis noch nicht sehr verbreitet. Viele Fachkräfte begegnen diesem von Zartbitter vertretenen Präventionskonzept zunächst mit Erstaunen, sind jedoch später überzeugt: Es funktioniert und trägt zu einem grenzachtenden Umgang unter Kindern und Jugendlichen bei.“

„Wir können nicht sagen, dass durch die neuen Medien das Ausmaß der sexualisierten Gewalt gegen Kinder zugenommen hat.“

Dieser Ansatz ist umso sinnvoller, weil sich die Realität sexueller Übergriffe oft anders darstellt als in der Fantasie besorgter Eltern. „Wenn ich über den ‚Schwarzen Mann’ im Gebüsch rede, den es ja eh kaum gibt, dann werfe ich damit ein falsches Bild an die Wand“, weiß Enders. „Auch der Anteil der Väter an sexuell übergriffigen Tätern ist relativ gering. Dafür liegt der Schwerpunkt unserer Präventionsarbeit neben sexualisierter Peer-Gewalt – also Gewalt durch Gleichaltrige – heute immer öfter im Bereich sexualisierter Gewalt in den sozialen Medien. Dabei haben wir es zum Teil mit einem gesellschaftlich grenzwertigen Umgang mit Bildmaterial insgesamt zu tun. Wir können nicht sagen, dass durch die neuen Medien das Ausmaß der sexualisierten Gewalt gegen Kinder zugenommen hat. Aber wir hören zum Beispiel inzwischen sehr oft, dass jemand während einer Beziehung dazu überredet wird, sich vor der Kamera zu entkleiden. Endet dann die Beziehung, wird das Bildmaterial nicht selten aus Rache im Internet gepostet. Oder ein anderer Fall aus dem Beratungsalltag: Ein Schüler einer neunten Klasse wünscht sich eine Freundin, findet aber keine. Die Klassenkameraden, die Jungs, stellen daraufhin das Fake-Profil eines Mädchens ins Netz, äußern ein Interesse an ihm, halten Kontakt, überreden ihn nach einer Weile, sich vor der Kamera auszuziehen und zu befriedigen, und anschließend mailen sie dieses Video durch die ganze Schule, wodurch der Junge zum Gespött wird. Das ist ein neueres, besorgniserregendes Phänomen. Eine positive Entwicklung, die wir beobachten, ist hingegen, dass mittlerweile viele Kinder und Jugendliche für Opfer Partei ergreifen. Wir erleben auch, dass im Netz zunehmend eine Form der Selbstregulierung entsteht.“

Nie Angst machen, immer stärken

Um dieser Entwicklung Vorschub zu leisten, unterhält Zartbitter eine ganze Reihe von Projekten, die sich dem Thema sexueller Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen widmen und sich direkt an die potenziell Betroffenen und deren Umfeld wenden. Dazu gehören nicht nur klassische Broschüren, Comicgeschichten und andere gedruckte Aufklärungsmaterialien, sondern auch Hörspiele, Bilderbücher, Musik-CDs und zwei Theaterstücke, mit denen der Verein zuletzt besonderen Erfolg hatte. Das niederschwellige und inklusive Angebot richtet sich bereits an Kinder im Vorschulalter und folgt neben dem Informationsauftrag vor allem einer Richtlinie: nie Angst machen, immer stärken. Seit 1995 hat das Zartbitter-Tourneetheater mehr als 1,5 Millionen Gäste verzeichnen können und Informationsmaterial in zwölf Sprachen verteilt. Knapp 30.000 CDs werden pro Jahr nach den Theateraufführungen kostenlos an Kinder ausgehändigt, darunter das Liederalbum ‚Hilfe holen, das ist schlau!’ und das Theaterhörspiel ‚Ganz schön blöd’ unter Mitwirkung von Hella von Sinnen. Darin geht es sehr anschaulich um den Bruder eines Mädchens, der Nacktfotos von ihr, die er durchs Badezimmerfenster gemacht hat, ins Netz stellen will. Das wird verhindert durch Teugel, der halb Engel und halb Teufel ist und die Schutzengelprüfung bestehen muss, indem er Kindern zur Seite steht. „Jedes Kind, das das Theaterstück besucht, bekommt das Hörspiel mit und kann es sich zu Hause anhören“, sagt Ursula Enders. „Dadurch sind die Eltern miteinbezogen, die sich ansonsten nur schwer erreichen lassen. Diesen Dialog zwischen Eltern und Kindern müssen wir fördern. Eltern sollten ihren Kindern signalisieren, dass sie sich mit dem Thema beschäftigt haben, ohne über Gebühr alarmiert zu sein. Deswegen sollten es immer positive und lebensfrohe Materialien sein, die sie ihren Kindern zur Aufklärungsarbeit mitgeben. Das zweite: Eltern sollten ihre Söhne und Töchter fragen können: ‚Wenn jemand deine Rechte verletzt – wer würde dich unterstützen?’ Und dann – ganz wichtig – als erstes Freunde aufzählen lassen. Als nächstes fragen: ‚Und welche Erwachsenen?’ Und erst ganz zum Schluss: ‚Du weißt ja, ich würde auch zu dir halten.’ Aber nicht sagen: ‚Komm zu mir!’ Denn das funktioniert nicht.“

Letzten Endes liegt die große Stärke des Zartbitter-Ansatzes in der Öffentlichmachung der Problematik. Unverkrampft und enttabuisierend auf der einen Seite, bestärkend und souverän auf der anderen. „Man muss den Kindern durch die Leichtigkeit und Lebendigkeit quasi das Gespräch erleichtern, damit es selbstverständlich ist, dass man auch über Übergriffe reden darf“, sagt die Zartbitter-Mitarbeiterin. „Ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit besteht darin, das Bewusstsein bei Erwachsenen zu stärken, dass sie aktiv für den Schutz der Kinder verantwortlich sein können. Dazu gehört auch ein komplett illustrierter Verhaltenskodex für Erwachsene, damit Kinder auch Informationen darüber bekommen, was die Pflichten der Erwachsenen sind. Wir sind damit sehr kinderrechtlich-partizipativ aufgestellt, denn dadurch erleben Mädchen und Jungen, dass wir parteiisch sind. Sie spüren, dass wir Bescheid wissen.“ Ein anderer Punkt ist die wachsende Solidarität zwischen Kindern und Jugendlichen, die Zartbitter unter anderem mit seinen Theaterstücken kultivieren möchte. „Wie wollen damit einen Rahmen bieten, in dem Mädchen und Jungen, die über Erfahrungen sprechen möchten, auch darüber sprechen können“, sagt Enders. „Und erreichen, dass die, die nicht sprechen wollen, trotzdem durch die Solidarität der anderen Jugendlichen bestärkt werden. Unsere Theaterstücke werden oft von Kindern und Jugendlichen besucht, die selber sexualisierte Gewalt erlebt haben. Für die ist es oft eine Erlösung, mitzukriegen, wie 400 Kinder „Hör auf! Das ist gemein!“ rufen, wenn der Junge die Nacktfotos von dem Mädchen posten will. Letzten Endes gilt: Wenn ein Thema benannt wird, über das niemand spricht, und wenn man dann die Solidarität der anderen erlebt: Das ist Heilung. Für viele Kinder sind das schon 60 oder 70 Prozent dessen, was sie brauchen. Und das ist etwas, was die heute erwachsenen Betroffenen früher nie bekommen haben.“

Besprechbar machen

Wenn Ursula Enders in die Zukunft blickt, ist sie deswegen trotz ihrer bevorstehenden Pensionierung in mancher Hinsicht optimistisch. Sie kennt die Vergangenheit, und sie weiß um die zurückgelegte Strecke zur Gegenwart. „Als wir 1985 das erste überregionale Treffen zum Thema Missbrauch hatten, war es unser großes Ziel, dass der deutsche Bundestag einmal während unseres Lebens das Wort ‚sexueller Missbrauch’ in den Mund nimmt“, sagt sie. Das ist inzwischen geschehen. „Man kann sich angucken, wie viel noch im Argen liegt, man kann aber auch sehen, dass sich schon wahnsinnig viel verändert hat. Das Schönste ist für mich, dass Kinder und Jugendliche heute über das Thema sprechen und sich auch gegenseitig unterstützen können. Offen ist, dass noch die Erwachsenen lernen müssen.“ Auch die Medien müssen noch dazulernen. Zwar ist die Berichterstattung über die Jahre besser geworden, doch in puncto Sachlichkeit und Einfühlungsvermögen darf es auch gerne noch etwas mehr sein. „Ich wünsche mir von den Medien vor allem, dass sie sehr viel lösungsorientierter berichten“, sagt Enders. „Wir kriegen mit, dass es jedes Mal ein Rieseninteresse weckt, wenn die Medien über das Thema berichten und dabei gleichzeitig Möglichkeiten aufzeigen. Die Menschen machen dagegen dicht, wenn nur aufmerksamkeitsheischende Schreckensmeldungen kommen. Unser Ziel war es immer, das Thema besprechbar zu machen und die Menschen nicht durch Schockmeldungen abzuschrecken. Hier würde ich mir mehr positive Beispiele wünschen.“ Ansonsten spürt Enders, dass etliche Einrichtungen, Vereine und Verbände zunehmend offensiv mit dem Thema umgehen, anstatt zu versuchen, totzuschweigen, was eigentlich ins öffentliche Bewusstsein gehört. „Es zählt zu den positiven Entwicklungen, dass beispielsweise entwürdigende Aufnahmerituale bei Pfadfindern, Messdienern oder Sportvereinen stark zurückgegangen sind“, sagt sie. „Seit etwa zehn Jahren sind die Jugendverbände in diesen Punkten sehr viel aufmerksamer. Dieses Drama von wegen ‚Wir haben heute so viel mehr Fälle sexualisierter Gewalt!’ kann ich also überhaupt nicht teilen. Ich sehe im Gegenteil viele Bereiche, die besser geworden sind. Dazu gehört übrigens eindeutig auch die #MeToo-Bewegung, denn über sie ist ein breiteres Bewusstsein für Übergriffe geschaffen worden. Man kann immer darüber diskutieren, ob sich der Einzelne schuldig gemacht hat oder nicht, das ist gar nicht die Frage. Aber durch die Öffentlichkeit sind zunehmend auch junge Männer auf uns zugekommen, die gesagt haben: ‚Mir passiert das und das – ist das jetzt auch ein Übergriff?’ Und das finde ich einfach super. Zusammenfassend möchte ich betonen: Das Belastende an unserer Arbeit ist nicht das Thema. Das Belastende ist, dass es mitunter immer noch zu wenig therapeutische Hilfsangebote für betroffene Kinder gibt. Und es ist absolut hart, wenn man Kinder abweisen muss, die eigentlich Hilfe brauchen.“

Zur Person

Ursula Enders wurde 1953 in Olpe geboren. Die Diplom-Pädagogin und Mitgründerin des Vereins Zartbitter e.V. widmet sich seit Anfang der Achtziger in unterschiedlichen Funktionen dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Enders arbeitet unter anderem als Traumatherapeutin, Erziehungswissenschaftlerin und Referentin und vertritt zusammen mit anderen Stellen die Interessen der Fachberatungsstellen auf bundespolitischer Ebene. Das von ihr in mehreren komplett überarbeiteten Neuauflagen herausgegebene Handbuch „Zart war ich, bitter war's“ gilt als Standardwerk für den Umgang mit sexualisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen, daneben fungiert sie als Autorin diverser Kinderbücher und Präventionsmaterialien. Ursula Enders lebt in Köln.

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