Gratis-Interview  Zartbitter e.V

Zartbitter e.V

Glauben, schützen, helfen.

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  • Marina Weigl
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Seit mehr als 30 Jahren existiert der Verein Zartbitter Köln als Informations- und Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen. Es ist eine der ältesten Fachberatungsstellen in Deutschland, die sowohl weiblichen als auch männlichen Opfern Hilfe anbietet. Die Leiterin des Vereins, Ursula Enders, war von Anfang an dabei und blickt auf eine bewegte Berufslaufbahn in einem manchmal belastenden Umfeld zurück. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Nicht zuletzt durch ihre Arbeit ist in den Medien und in der Gesellschaft in den letzten Jahren ein öffentliches Bewusstsein geschaffen worden, das für ein wichtiges und allgegenwärtiges Thema sensibilisiert.

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Als Ursula Enders 2002 einmal im Rahmen eines Selbstversuchs zwei Jahre lang als Mädchen im Internet unterwegs gewesen ist, bekam sie es mit einer erschreckenden Wirklichkeit zu tun, die den meisten Menschen auch deswegen verborgen bleibt, weil sie sich gleichzeitig sehr nah und unglaublich fern von ihrem täglichen Leben abspielt. „Ich habe mich als Susie, zwölf Jahre, ausgegeben und praktisch alles erlebt“, sagt die Pädagogin. „Ich war zwar lediglich in Kinderchaträumen, aber es dauerte bloß Sekunden, bis mir ein Dutzend Männer und junge Erwachsenen ihre exhibitionistischen Bilder geschickt haben und fragten, ob ich das geil fände.“ Es sind Berichte wie diese, aus denen der Stoff von Eltern-Albträumen gemacht ist. Enders kennt sie alle, denn mit ihrem Verein Zartbitter Köln engagiert sie sich bereits seit 1987 gegen die unterschiedlichsten Formen von Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Dabei hat sie gelernt, bei einem Thema hinzuschauen, bei dem andere eher zum Wegschauen neigen. Nicht notwendigerweise aus Absicht, sondern oft auch aus Scham, Verunsicherung, Überforderung und Hilflosigkeit. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist bis heute – zumindest zum Teil – ein Tabu, an dem schon das Vokabular verzweifeln kann. Der Begriff Missbrauch etwa suggeriert implizit einen korrekten „Gebrauch“ eines Menschen, der trotz seiner Minderjährigkeit nicht nur mit Gedanken, Gefühlen und einem eigenen Willen ausgestattet ist, sondern auch mit unveräußerlichen Rechten. Es gibt eine verschleiernde Sprache, die das Erleben von sexualisierter Gewalt in eine abstrakte Sphäre rückt, die Schweigen und Stillhalten erleichtert. Zartbitter hat sich nicht nur der Opferhilfe und der Prävention verschrieben, sondern auch der Aufklärungsarbeit, und wenn man sich mit Ursula Enders an einen Tisch setzt, bekommt man ein Gespür dafür, wie das klingen kann.

„Wir hatten früher sehr viel mehr mit Missbrauch in Familien zu tun, weil diese Fälle früher öfters bekannt wurden“, sagt sie. „Seit Ende der Neunziger ist der klassische Fall jedoch der, dass wir in Fällen sexualisierter Gewalt durch Kinder und Jugendliche in Schulen und Kindertageseinrichtungen um Unterstützung gebeten werden. Lehrerinnen und Erzieher kommen auf uns zu und berichten etwa, dass es in ihrer sechsten Klasse sexuelle Übergriffe gegeben hat. Schule als Tatort – das erleben wir immer wieder.“ Diese Feststellung mag verwundern, aber sie überrascht nicht, wenn man sich so wie Enders sachlich mit einem Themenfeld auseinandersetzt, das vielen Medien nur die großen Schlagzeilen wert ist – oder eben gar keine. Ohne ein Schreckgespenst an die Wand zu malen: Sowohl das Bild sexueller Übergriffigkeit als auch deren Ursachen stehen in einem Missverhältnis zur herkömmlichen Berichterstattung, die dringend der Korrektur bedarf. Und wichtiger noch: der Einmischung. Pro Jahr gibt es in Köln und Umgebung etwa 500 bis 600 Fälle, die bei Zartbitter vorstellig werden und bei denen der Verein dabei hilft, Vermutungen abzuklären und gegebenenfalls eine langfristige Beratung zu vermitteln. Übergriffe durch Kinder und Jugendliche stellen dabei mehr als die Hälfte der Fälle, darunter zunehmend solche, in denen sexuelle Übergriffe von Mädchen verübt wurden. Diese sogenannte Peer-Gewalt wird in Enders’ Erfahrung im Wesentlichen durch die Tatsache begünstigt, dass Kinder und Jugendliche in entscheidenden Phasen ihrer sozialen Entwicklung auf sich selbst gestellt sind. „Die Ursache sexualisierter Gewalt ist einmal eine selbst erlebte Gewalterfahrung, die wiedergegeben wird, weil sie nicht verarbeitet wurde“, sagt Ursula Enders. „Viele der übergriffigen Kinder haben zuvor ihrerseits Übergriffe durch ältere Kinder erlebt, in der Kita, in der Nachbarschaft. Das hat oft nichts mit der Familie zu tun. Es kann auch der Missbrauch durch Erwachsene sein, was allerdings weniger oft der Fall ist. Das zweite ist, dass wir keine Grenzen achtenden Gesellschaftsnormen haben. Dass Erwachsene, wenn es leise Grenzverletzungen gibt, gerne so etwas sagen wie ‚Regelt das doch unter euch.’ Für uns stellt sich hier regelmäßig die Frage: Ist die Ursache eine psychische Belastung von ein oder zwei Kindern, die dann in der Schule übergriffig werden? Oder gibt es in dieser Klasse insgesamt eine Kultur der Grenzverletzung? Wir haben es häufig mit einer sehr sexistischen Atmosphäre zu tun und dass dann durch sexualisierte Gewalt die Gruppenhierarchie bestimmt wird: Wer hat das meiste hier zu sagen? Deswegen erleben wir sehr viel sexualisierte Gewalt im ersten Schuljahr und in den Klassen 5 und 6, also immer dann, wenn Gruppen sich neu zusammensetzen, und wenn die Mitglieder dieser Gruppen am meisten auf sich selbst gestellt sind. Das ist wohlgemerkt keine neue Entwicklung, sondern nur eine, die zunehmend ins Bewusstsein rückt. Wir als Fachberatungsstelle klären dann zunächst ab: Was brauchen die Betroffenen? Welche Hilfen muss es für die übergriffigen Mädchen und Jungen geben? Und als drittes: Was braucht die Gruppe?“

„Bei Kindern und Jugendlichen sind die Selbstheilungskräfte immens – wenn sie die richtige Hilfe bekommen.“

Keine Panik

In der Arbeit von Zartbitter hat sich dabei in den letzten Jahrzehnten ein Dreiklang herauskristallisiert, auf dem Hilfe und Unterstützung und nicht zuletzt die Aufklärungsarbeit basieren. Glauben, schützen, helfen – ein direktes, kleinteiliges, flexibles und fallspezifisches Verfahren, mit dem der Verein den Betroffenen sofort und auch langfristig zur Seite stehen kann. „Glauben heißt: Wenn mir ein Mädchen, ein Junge etwas erzählt, dann höre ich zu“, sagt Enders, die in ihrer ruhigen und gelassenen Erscheinung professionelle Expertise und hohe Empathie vereint. „Wir führen kein gemeinsames Gespräch mit allen Beteiligten. Wir führen Einzelgespräche und hören zu, denn sobald wir eine Gruppensituation schaffen, können viele nicht mehr alles erzählen. Als nächstes müssen wir schützen. Wir müssen dafür sorgen, dass ein Junge, der beispielsweise von einem Klassenkameraden vergewaltigt worden ist, nicht mehr mit dem in einer Klasse sein muss, sondern dass der Junge, der vergewaltigt hat, in eine andere Klasse kommt. Und schließlich muss ich Hilfen anbieten. Dazu gehören die Beratung für das betroffene Kind und eine traumapsychologische Stabilisierung. Letztlich müssen wir auch mit den Eltern arbeiten, die häufig einer noch größeren Belastung ausgesetzt sind als die Kinder selber. Eltern geben sich häufig einer Fantasie davon her, was alles passiert sein kann, und müssen erst einmal auf den Boden der Tatsachen geholt werden. Die Vorstellung ‚Mein Kind behält jetzt lebenslange Folgen’ ist weit verbreitet. Und diese Vorstellung versetzt Eltern oft in so große Panik, dass dadurch noch mehr Leid entsteht. Hier müssen wir stattdessen Möglichkeiten der Heilung aufzeigen.“

„Kinder und Jugendliche können über Missbrauch reden, aber die Erwachsenen in der Regel nicht.“

Die Traumatherapeutin weiß: „In den Medien wird immer berichtet, dass Opfer unter Langzeitfolgen leiden. Dabei handelt es sich aber in der Regel um Berichte von Erwachsenen, die als Kind nicht geschützt und denen nicht geglaubt wurde. Wir arbeiten hier aber mit Kindern und Jugendlichen, und da sind die Selbstheilungskräfte immens – wenn sie die richtige Hilfe bekommen. Dabei behalten wir stets auch im Blick, welche Hilfen das sexuell übergriffige Kind braucht, was übrigens schon im Kindergartenalter vorkommen kann. Hier müssen wir auch darauf achten: Hat dieses Kind selbst sexualisierte Gewalt erlebt und spielt dieses Kind nach, worüber es nicht sprechen kann? Das kann eine Ursache sein, und sie liegt oftmals nicht in der Familie, sondern außerhalb.“ Zartbitter arbeitet bei der Abklärung solcher Fälle nicht nur mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen zusammen, sondern auch mit den Eltern, mit Lehrern und Lehrerinnen, Sozialarbeitern, Trainern, mit Nachbarn und Bekannten. Und mit Arbeitskollegen, etwa für den Fall, dass junge Frauen und Männer in der Ausbildung belästigt werden. „Es gibt die Ausnahme, dass Kinder auch kindertherapeutische Unterstützung brauchen, aber die wenigsten Kinder entwickeln langfristige Folgeproblematiken“, sagt Ursula Enders. „Viele betroffene Mädchen und Jungen brauchen keine langfristige Therapie, wenn sie nach dem Missbrauch wirksam geschützt werden. Sie brauchen stattdessen gezielte Hilfe, um etwa ihre Einschlafprobleme zu bewältigen. Und ihre Umwelt braucht eine Anleitung, ihnen zu helfen. Die Jugendlichen müssen Techniken erwerben, um Wiederbelebungen, Flashbacks stoppen zu können, doch das können sie oft in fünf, sechs Beratungsterminen lernen. Langzeitfolgen entwickeln in der Regel nur Mädchen und Jungen, die ohnehin vielen Belastungen ausgesetzt sind, denen nicht adäquat geglaubt wird, oder deren Aufdeckung von extremen Auseinandersetzungen belastet wird.“4

Auch deshalb arbeitet Zartbitter besonders intensiv in Schulklassen, in denen es zu sexuellen Übergriffen gekommen ist. „Kinder und Jugendliche vertrauen sich in der Regel erst einmal ihren Freunden und Freundinnen an, nicht den Erwachsenen“, sagt Enders. „Deshalb ist es wichtig, Angebote zu machen, bei denen sich auch Mädchen und Jungen an uns wenden können, denen der Freund oder die Freundin einen Hinweis gegeben hat. Das Miterleben ist dabei häufig genauso belastend wie selbst betroffen zu sein. Die zweite Vertrauensperson sind oftmals Erwachsene aus dem Umfeld und nur in den seltensten Fällen die Eltern. Tatsache ist: Mädchen und Jungen können sich ihren Eltern nicht anvertrauen, weil sie wissen, wie sehr die Eltern dadurch belastet werden, wenn sie das hören würden. Sie schweigen gegenüber den Eltern aus Liebe, und nicht, weil sie eine gestörte Beziehung zu ihren Eltern haben.“ Umso wichtiger sind daher die Vertrauenspersonen außerhalb des Elternhauses. Oft sind es Menschen, die sich als vertrauenswürdig erweisen, weil sie aktiv einschreiten, wenn sie beobachten, dass die Grenzen von Kindern verletzt werden. Das kann schon damit beginnen, dass jemand beobachtet, wie ein Kind gegen den eigenen Willen fotografiert wird, und sagt, dass das nicht in Ordnung ist. „Neben der Beratungsarbeit ist Präventionsarbeit ein Schwerpunkt bei uns. Wir leisten von Anfang an eine sehr lebensfrohe, unterstützende Präventionsarbeit, die Missbrauch und sexuelle Übergriffe klar benennt, aber keine Angst macht“, sagt Enders und spricht damit auf eine zentrale Säule ihrer Arbeit an. „Kinder und Jugendliche können über Missbrauch reden, aber die Erwachsenen in der Regel nicht. Kinder und Jugendliche wissen oft untereinander, wer sexualisierte Gewalt erlebt. Wenn sie sich jedoch an Erwachsene wenden, werden sie häufig abgewiesen, mit dem Hinweis, das doch ‚untereinander zu klären’.“

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