Vivian Gornick

Vivian Gornick

„Zwischen den Extremen liegt ein Ort, an dem wir uns echt fühlen.“

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Zur Person

5. März 2022, New York. Vivian Gornick braucht keinen Sekretär und keine Pressedame. Wer sich mit der 86-Jährigen zum Gespräch verabreden will, kann das gleich persönlich am Telefon erledigen. Auf ihren Vorschlag, sich bei ihr in der Wohnung zu treffen, kann momentan nicht jeder eingehen, der das gerne tun würde. Das ist bedauerlich, denn dann würde man Gornicks herzliches Lachen nicht nur hören, sondern auch sehen. Und die Schriftstellerin lacht gerne und oft. Nicht nur, wenn sie über Literatur und Feminismus spricht, sondern auch wenn es darum geht, ihre Rolle als Revolutionärin zu reflektieren. Außerdem verrät sie, weshalb sie sich so bald nicht bei Tinder anmelden wird.

Ms Gornick, in Ihrem neuen Buch „Offene Fragen“ schreiben Sie: „Ich lese noch immer, um die Macht des Lebens zu fühlen.“ Wie spürt man die Macht des Lebens beim Lesen?

Die beste Erfahrung beim Lesen ist, wenn man seine eigene Erfahrung gespiegelt sieht. Wenn man sich selbst spürt. Wenn man gebannt ist von der Kraft der Worte, von dem Drama, von dem Schmerz, von der Herrlichkeit, von allem. Beim Lesen spielt es keine Rolle, wie alt man ist. Man kann ein Kind sein und vielleicht noch nicht einmal die Worte haben, um seine Gefühle zu beschreiben, aber man hat trotzdem dieselben Gefühle. Man ist für sich selbst lebendig, und das ist für mich die Macht des Lebens. Den Ausdruck verwende ich zweimal in meinem Buch, einmal in der Einleitung und einmal am Ende. Beim ersten Mal schwingt eine gewisse Ironie dabei mit, schließlich suggeriert die „Die Macht des Lebens“ den Überschwang jugendlicher Gefühle. Später merkte ich aber, wie sehr der Ausdruck für mich immer noch zutrifft, denn Tatsache ist: Wenn ich beim Lesen für mich selbst lebendig werde, ist es die gleiche Erregung, wie ich sie damals gespürt habe.

Man könnte aber auch argumentieren, dass einen das Lesen schon aufgrund des Zeitaufwands um andere Erfahrungen bringt. Von Ihnen heißt es, dass Sie pro Tag vier Stunden lesen. Zeit, in der man genauso gut andere Dinge tun könnte.

Mir geht es genau umgekehrt. Ich kann mir ein Leben ohne das Lesen nicht vorstellen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was Menschen, die nicht lesen, in dieser Zeit machen. Lesen ist für mich keine Zeitverschwendung, sondern genau das, was ich will. Ich werde oft gefragt: Woher nehmen Sie all die Zeit? Und meine Gegenfrage lautet: Warum nehmen Sie sich keine? Natürlich ist für mich als Schriftstellerin das Lesen Teil meiner Profession. Ich habe mir ein Leben aufgebaut, in dem Lesen als wertvolle Aktivität zählt. Aber immer wenn jemand behauptet, keine Zeit zum Lesen zu haben, frage ich mich, was derjenige stattdessen macht.

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