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Tracy Chapman

„Soziale Bewegungen brauchen Identifikationsfiguren.“

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07.11.2015, Los Angeles. Müsste man den schüchternsten Popstar der Welt wählen, Tracy Chapman hätte gute Chancen. Es ist nicht so, dass die Sängerin ungern über ihre Arbeit spricht. Aber sich selbst ins Licht zu stellen – das mag sie gar nicht. Tracy Chapman sitzt an einem kühlen aber klaren Samstagmorgen in Los Angeles am Telefon und ist guter Dinge. Von Zeitdruck keine Spur. „Dafür ist sie viel zu höflich“, sagt der Manager, der alles im Griff haben möchte und deshalb ankündigt, das Gespräch zu unterbrechen, wenn es zu lange dauert. Sein Zwischenruf bleibt jedoch aus. Vermutlich findet er es selbst interessant, was Tracy Chapman zu ihrem Land, seinen Politikern und der Kunst des Liederschreibens zu sagen hat.

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Frau Chapman, man hat lange nichts mehr von Ihnen gehört. Was haben Sie zuletzt gemacht?

Tracy Chapman: Naja, es gibt tausend Dinge, die man tun kann, ohne dass die Öffentlichkeit davon etwas mitbekommt. Es ist ein Irrglaube, dass Musiker nur dann aktiv sind, wenn sie im Fernsehen zu sehen sind oder ein neues Album vorstellen. Ich bin aktiv. Ich schreibe neue Lieder, engagiere mich. Langweilig ist mir eigentlich nie.

Im Frühling hatten Sie einen eindrucksvollen Auftritt im Fernsehen, als Sie in einer der letzten Shows von David Letterman den Klassiker „Stand By Me“ gespielt haben.

Ja, das war eine schöne Sache. Das Team war sehr freundlich, die Leute im Studio haben mir die Nervosität genommen. Ein guter Auftritt. Außerdem habe ich natürlich einen besonderen Song gespielt. Letterman hatte vorher gesagt, dass er als Junge vor allem zwei Songs geliebt habe, „America“ von Simon & Garfunkel und eben „Stand By Me“ von Ben E. King.

Sie sind Expertin für gute Lieder. Was macht „Stand By Me“ zu einem so außergewöhnlichen und zeitlosen Song?

Ich habe das Stück schon bei verschiedenen Gelegenheiten gespielt, und es ist immer wieder so, als lasse man mit diesem Lied einen guten Freund in den Raum. Jemanden, der einem auf sehr einfache Weise eine sehr schöne Botschaft übermittelt. Die Leute mögen das. Sie genießen es, wenn dieser Song gespielt wird. Sie fühlen sich dann wohl.

Der Song wird millionenfach an Lagerfeuern gespielt. Manchmal ganz übel, häufig ordentlich – aber selten so brillant, wie Sie es taten. Wie macht man das, einen Song so zu singen, dass den Leuten der Atem stockt?

(lacht) Keine Ahnung. War es denn so?

Wenn man sich den Auftritt auf Youtube anschaut, spürt man, wie ergriffen das Publikum im Studio ist.

Woran merken Sie diese Ergriffenheit?

Zum Beispiel daran, dass der Applaus erst etwas später einsetzt als üblich – dann aber umso intensiver ist.

Ah. Na ja, die Leute bei Letterman wissen, was sie tun müssen, damit man sich als Musiker wohlfühlt. Sie unterstützen die Künstler, indem sie Komfortzonen aufbauen – was beim Fernsehen nicht einfach ist. Zudem hatte ich den Eindruck, dass die Zuschauer bei ihm nicht nur im Studio sitzen, weil sie es klasse finden, mal im Fernsehen zu sein. Die Leute dort interessierten sich wirklich für die Themen, die Gäste und die Musik. Diese Umstände machen es einem einfach, zu vergessen, dass man eigentlich nervös sein müsste.

1988 sind Sie beim Tribute-Konzert für Nelson Mandela alleine mit einer akustischen Gitarre auf die Bühne des Londoner Wembley-Stadions gegangen und haben für mehr als 70.000 Menschen in der Arena sowie geschätzt 600 Millionen weltweit vor den Fernsehern zwei Songs gespielt, „Fast Car“ und „Talkin’ Bout A Revolution“. Damals waren Sie eine Newcomerin, 24 Jahre alt. Wie nervös waren Sie da?

(lacht) Das Kribbeln war ungleich heftiger als zuletzt bei Letterman. Der Gedanke, vor diesen vielen Menschen in der Arena zu spielen, war durchaus furchteinflößend. Ich hatte meine Songs bis dahin meistens in Cafés gespielt, nicht in Fußballstadien. Aber so schlimm war es dann nicht. Viele Leute dachten damals wohl: Warum macht sie das alleine, warum hat sie keine Band dabei, die ihr helfen kann? Aber ganz ehrlich: Das hätte mich nervös gemacht. Ich kannte bis dahin kaum etwas anderes, als Konzerte alleine mit meiner akustischen Gitarre zu bestreiten. Das war mein gewohntes Arbeitsumfeld. Das Instrument und meine Songs gaben mir viel Sicherheit. Ich habe damals gelernt, dass es möglich ist, vertraute Dinge auch in Situationen tun zu können, die neu und herausfordernd sind. Von dieser Erfahrung profitiere ich bis heute.

Ich kenne eine Menge Leute, die von Ihrem Auftritt damals nicht nur bewegt waren, sondern wirklich den Impuls gefühlt haben: Ich möchte etwas tun. Glauben Sie, dass Ihre Musik eine positive Wirkung auf Menschen hat?

Interessanterweise können wir Musiker und Songwriter selbst am wenigsten zu der Frage nach der Wirkung unserer Musik sagen. Um es also kurz zu machen: Ich weiß es nicht. Aber es ist mir natürlich nicht egal. Es freut mich sehr, wenn Sie von Leuten wissen, die sich von meinen Songs inspiriert gefühlt haben.

Eine entscheidende Stelle in Ihrem berühmtesten Song „Talkin’ Bout A Revolution“ ist die Zeile „It sounds like a whisper“, also: Es klingt wie ein Flüstern. Vertrauen Sie den lauten Revolutionären nicht?

Es gibt die Typen mit den großen Gesten. Natürlich ziehen diese Leute schnell die große Aufmerksamkeit auf sich. Es kann auch tatsächlich helfen, laut zu werden und um sich herum eine wortgewaltige Menge zu versammeln. Ich habe aber damals beobachtet, dass diese Lautstärke keine Garantie dafür gibt, dass die Ideen selbst einen großen Widerhall erzeugen. Wirkung kann auch dann entstehen, wenn eine einzelne Person zur richtigen Zeit das richtige Wort sagt. Und das kann eben auch ganz leise passieren. Sogar geflüstert.

„Wer weiß, ob Martin Luther King heute überhaupt noch die Chance hätte, zu einem Protestführer aufzusteigen?“

Sie haben 2009 nach der Wahl von Obama gesagt, Ihr Land befinde sich auf einem richtigen und guten Weg. Wie fällt Ihr Fazit heute aus, knapp ein Jahr vor Ende seiner zweiten und letzten Amtszeit?

Zu einer Sache, die ich damals gesagt habe, stehe ich auch weiterhin: Seine Wahl bedeutete für Amerika einen großen Wandel. Ich bin stolz auf mein Land, das mit Barack Obama zwei Mal einen Afroamerikaner ins Amt gewählt hat. Es war eine bedeutsame Wahl und auch eine gute Wahl. Leider lassen sich heute aber viele politische Felder definieren, in denen sich die politische Situation der USA nicht verbessert hat. Es ist in meinen Augen aber unfair, dafür nur Obama die Schuld zu geben. Verantwortlich ist das politische System. Es gibt auf der einen Seite den Präsidenten, auf der anderen Seite den Senat und den Kongress, beide in der Hand der Republikaner, die nichts unversucht lassen, den ersten schwarzen Präsidenten der USA in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Es ist schon sehr enttäuschend, dass vom Volk gewählte Politiker nur noch ein Ziel zu verfolgen scheinen, nämlich Obama vor die Wand fahren zu lassen. Dabei nehmen sie sogar in Kauf, Dinge zu tun, die eindeutig nicht im Sinne des amerikanischen Volkes sind. Zum Beispiel beim Thema Gesundheitsversorgung. Das ist nicht das politische Verhalten und nicht das Amerika, das ich mir 2009 vorgestellt habe.

Was ist gefragt: mehr Geduld, weil der Fortschritt langsamer vorangeht als gedacht? Oder andere Methoden, um ihn wieder in Gang zu bringen?

Ich befürchte, mit Geduld ist es nicht getan. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass es immer langsamer vorangeht oder dass sogar Rückschritte gemacht werden. Wir sollten uns wieder daran erinnern, welche Methoden es gibt, um Veränderungen voranzutreiben. Dazu zählte zur großen Zeit der Bürgerrechtsbewegungen zum Beispiel der zivile Ungehorsam, wie ihn in den USA Rosa Parks vorgelebt hat. Sehen Sie, die Leute sprechen heute immerzu von der neuen Macht der sozialen Medien. Und es stimmt: Es dauert nur wenige Minuten, und Bilder und Symbole gehen um die ganze Welt. Doch ich beobachte, dass das Netz diese Bilder häufig sehr schnell wieder ausblendet. So schnell wie sie kommen, gehen sie auch wieder.

Wie müssten sich die sozialen Medien ändern?

Ich glaube, die Struktur dieser digitalen Netzwerke ist das Problem. Die Idee ist ja, dass es kein Zentrum gibt, dass keiner die Meinungsführerschaft übernimmt. Ich denke aber, dass so jemand nötig ist, damit tatsächlich eine soziale und politische Bewegung entsteht – und nicht nur ein Raum mit vielen Stimmungen. Soziale Bewegungen benötigen Identifikationsfiguren, so wie Martin Luther King eine war.

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