Teestube Jona

Dezember 2017 / Seite 3 von 3

Am liebsten aus dem Stadtbild verdrängt

An der nächsten Straßenecke steht ein alter Mann und hält stumm die Hand auf, eine alte Frau läuft vorbei, sie hat zwar eine Wohnung, aber nicht genug zum Leben und sammelt daher Flaschen. Immerhin ein kleiner Teil dieser Menschen findet in der Teestube Jona einen Halt. Viele Rückzugsräume gibt es für Obdachlose nicht – im Gegenteil: Aus Städten sollen sie oft verdrängt werden, die europäische Dachorganisation der Wohnungslosenhilfe (Feantsa) berichtet, dass das Vorgehen gegen Menschen auf der Straße „in ganz Europa aggressiver“ werde.

Direkt nebenan feiern junge Backpacker in einem Designhostel. Und wie überall in Frankfurt wird gebaut, es entstehen Luxuswohnungen. Gabriel sagt: „Da kann man beim Frühstück die Armut beobachten. Das erinnert mich an Brasilien, dort habe ich einen Golfplatz mit Blick auf die Favela gesehen.“ An wenigen Orten Deutschlands werden die Extreme so deutlich wie hier – doch die Schere zwischen Arm und Reich geht überall auseinander. 1998 besaßen die oberen zehn Prozent der Bevölkerung knapp 16 Mal mehr als die unteren 50 Prozent, im Jahr 2013 war ihr Nettovermögen schon 51 Mal höher. Gabriel wirkt nachdenklich. „Für viele Leute ist es normal, in teuren Klamotten auszugehen, während auf der anderen Straßenseite den Menschen die Kleider vor Dreck vom Körper fallen, weil sie nichts anderes haben.“

Anschließend kommt Gabriel mit in die Teestube. Er war noch nie hier, will sich aber vernetzen: „Ich will im Viertel Suppe verteilen. Vielleicht kann mir die Teestube helfen, die Suppe warmzuhalten.“ Etwa die Hälfte der Gesichter ist neu. Der Schweiger mit dem Vollbart ist noch da und spielt mit einem anderen Herrn Kniffel, auch die zwei Frauen sitzen noch vor der Küche. Eine von ihnen heißt Susanne. „Ich bin immer hier, ohne die Teestube ist alles doof“, sagt die 52-Jährige. „Wohnungslos bin ich gerade nicht, eher arbeitslos.“ Als junge Frau kam sie nach Frankfurt, sie flüstert: „Mit der letzten S-Bahn.“ Manches von dem, was an diesem Abend zu hören ist, bleibt kryptisch. „Mein ganzes Leben war sehr komplex, aber es ist besser geworden.“ Sie habe die Hauptschule nicht beendet, auf dem Arbeitsmarkt nie Fuß gefasst. Fünf Jahre lebte sie ohne festen Wohnsitz, schlief auf der Straße oder in Frauenhäusern. „Ich bin hartnäckiger als Kruppstahl“, sagt sie und lacht mit heiserer Stimme. Gerade auf der Straße bleiben Frauen oft unsichtbar – das ist ihr Schutz, auch gegen Gewalt. Susanne habe die zum Glück nie erlebt. „Man kann alles verkaufen, aber nicht den Körper und die Seele.“ Heute wohnt sie am Frankfurter Stadtrand, ihre Kontakte pflegt sie aber im Bahnhofsviertel, vor allem in der Teestube.

„Man kann alles verkaufen, aber nicht den Körper und die Seele.“
Susanne

Ein Investor schlug zu, die Teestube soll raus

Doch das könnte sich bald ändern. Längst sind Immobilien in Großstädten zu Spekulationsobjekten geworden. Anfang Juni wurde bekannt, dass ein Investor das Haus, in dem die Teestube untergebracht ist, gekauft hat. Eine Woche später kam die Kündigung. Nun wird gestritten, wann die Teestube raus muss. Der neue Besitzer hat es eilig, lässt das Haus bereits sanieren – Baulärm und Dreck inklusive. Inzwischen geht die Heizung nicht mehr, das Wasser im Abfluss läuft nicht ab, kurz fiel der Strom aus. „Ich kann nicht nachweisen, woran das alles liegt. Aber wir sind kreativ“, sagt Nadine Müller. Eine Lichterkette erleuchtete das Bad, für die Gäste gab es Wärmflaschen, nun wärmt sie ein kleiner Heizofen. Vor allem sucht die Teestube aber dringend neue Räume. Nadine Müller ist zuversichtlich: „Wir befinden uns ins konstruktiven Gesprächen mit der Stadt.“

Dann ist es kurz vor zehn. „Wir machen gleich zu“, ruft die Chefin in den Raum. Alle trinken ihren Tee aus, manche gehen noch einmal aufs Klo. Plötzlich steht auch Markus vor der Tür, der Besucher der Teestube, der so viel über Politik weiß und so wenig über sich preisgibt. Er war in der zweiten Etage verschwunden, dort gibt es drei Computer mit Internetzugang und eine Couch zum Ausruhen. Neben ihm stehen zwei vollbepackte, große Plastiktüten, die Henkel sind gerissen. „In der Armutsszene wird man viel beklaut, man muss aufpassen.“ Markus wählt seine Worte weiterhin mit Bedacht: „Da gibt es Leute, die sagen, das sind keine Deutschen, die klauen.“

Wohnungslose Flüchtlinge

Ende 2016 lebten laut Statistischem Bundesamt 1,6 Millionen Geflüchtete in Deutschland. Davon hatten 872.000 einen Schutzstatus als anerkannter Flüchtling oder subsidiär Geschützter (etwa als Kriegsgeflüchteter) – und damit in der Regel auch Anspruch auf eine eigene Wohnung. Dennoch müssen 440.000 Flüchtlinge weiter in oft beengten und abgelegenen Gemeinschaftsunterkünften ausharren, weil sie keine Wohnung finden. Obdachlos sind aber nur die allerwenigsten. Laut Experten kommt von Geflüchteten zudem nur ein kleiner Teil der Nachfrage nach günstigen Wohnungen.

Immer wieder hört man von Obdachlosen Geschichten über Konkurrenz – zunehmend richtet sich die Rivalität auch gegen Osteuropäer. In den vergangenen Jahren ist ihr Anteil unter Obdachlosen stark gestiegen, in Metropolen sind es nun bis zu 50 Prozent, schätzt die BAGW. Obwohl Deutschland laut der Arbeitsagentur von der Binnenmigration aus der EU profitiert und auch die meisten Rumänen, Bulgaren und Polen hier Arbeit finden, schürt vor allem die bayerische CSU seit Jahren die Angst vor massenhafter „Zuwanderung in die Sozialsysteme“. Die Folge: Ende 2016 verschärfte SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles die Gesetze für Zuwanderer aus der EU. Sozialleistungen erhält seither nur, wer ein Jahr hier arbeitet oder fünf Jahre ausharrt – davor gab es bereits nach sechs Monaten Sozialhilfe. So entfällt nun auch der Anspruch auf längerfristige Unterbringung. Doch der Eifer geht noch weiter: Viele Kommunen wie Frankfurt oder Hamburg erschweren EU-Migranten auch die Notunterkunft, also den Erfrierungsschutz. Deshalb landen immer mehr von ihnen ganz unten. So erklärt sich der hohe Anteil von EU-Bürgern und vor allem Osteuropäern unter Obdachlosen, und ihr geringer Anteil unter Wohnungslosen (sechs Prozent), die ja meist irgendwo untergebracht werden.

Gabriel sagt: „Menschen, die schon lange alleine auf der Straße leben, werden teilweise durch osteuropäische Obdachlose, die in Gruppen unterwegs sind, von ihren Plätzen verdrängt.“ Er glaubt, dass es „unter den Ärmsten“ aber immer schon Konkurrenz gab. „Die Armen sollten sich doch eigentlich zusammenschließen. Aber sie stehen schon immer am Rande der Gesellschaft und sind ausgeschlossen. Sie wissen: Nur wer Geld hat, der hat recht.“ Nun will er noch einmal los. „Ich bin noch nicht zufrieden heute.“ Zur Verabschiedung sagt er: „Vielleicht kann man in den Artikel schreiben, dass ich dringend eine Zweizimmerwohnung suche, bezahlbar. Damit hätte ich viel mehr Möglichkeiten zu helfen.“

Markus bietet an, mit ihm in die Bahnhofsmission zu laufen – ohne Fotografen. Er möchte nicht erkannt werden. Seine Taschen sind schwer. „So bleibt man wenigstens fit“, sagt er. Im kleinen, grell erleuchteten Raum der Bahnhofsmission sitzen sechs Männer und zwei Frauen, auch die alte Dame mit dem vernarbten Gesicht, die vorhin nach der Uhrzeit fragte. Kaum jemand redet, die meisten sind auf sich konzentriert, trinken Roibuschtee, essen ein Brot – für Besucher gibt es das umsonst. Zwei Männer sitzen an einem Tisch, unterhalten sich kurz auf Rumänisch. Alle können hier her kommen, ganz anonym. Markus setzt sich zu einem Bekannten, der kurz von der weit ausgebreiteten Frankfurter Allgemeinen hochblickt, die er liest. „Was ist für dich der typische Wohnungslose?“, fragt Markus.

„Also, ich war lange Deutschlands gepflegtester Wohnungsloser, mir haben das die Leute nicht geglaubt“, antwortet der Endfünfziger. Er trägt schwarze Lackschuhe, Cordhose, eine braune Lederjacke – und spielt gerne mit Klischees: „Der typische Wohnungslose ist ungeduscht und hat dreckige Klamotten.“ Doch auch hier in der Bahnhofsmission sehen nur manche Besucher so aus, etwa der Mann mit dem Vollbart und dem verdreckten, orangenen Overall, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Kein einziges Mal blickt er vom Boden hoch. Dann kommt ein junger Mann mit kurzer Hose, Badeschlappen und gepflegtem Äußeren herein und trinkt Tee. Der FAZ-Leser erzählt, er sei Jurist gewesen – und abgestürzt. „Ein Typ auf dem Amt führte einen Privatkrieg gegen mich. Wohnungslose sollen oft psychiatrisiert werden.“ Er verlor seine Wohnung, lebte in Pensionen, nun in einer Wohngemeinschaft – muss dort wegen einer Räumungsklage aber wieder raus. „Mal schauen, was dann kommt.“ Die beiden unterhalten sich weiter, auch über osteuropäische Obdachlose. „Wenn die hier auf der Straße leben, warum bleiben sie nicht zu Hause?“, fragt der Jurist.

Nachtplatz in der U-Bahn-Station

Der kleine Anteil der EU-Bürger, der hier keine Arbeit findet, wird in Frankfurt für maximal vier Wochen untergebracht. Wer dann noch da ist, schläft auf der Straße – oder in der Hauptwache. Nur gut einen Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, direkt an einer der größten Einkaufsmeilen Deutschlands, der Zeil, liegt diese U-Bahn-Station, deren B-Ebene die Stadt seit der Jahrtausendwende im Winter für Obdachlose öffnet. Dort schlafen bis zu 130 Menschen, laut Angaben der Stadt sind 30 Prozent von ihnen „psychisch kranke, langfristig obdachlose Personen“, zudem kommen 40 Prozent aus Osteuropa, weitere 20 Prozent sind Roma. Dutzende Menschen liegen hier gegen Mitternacht auf den grauen, kalten Fliesen, meist auf Isomatten und in Schlafsäcken, die Sozialarbeiter bei Bedarf herausgeben. Eine Taube fliegt über ihre Köpfe, das Neonlicht leuchtet grell, an einer Rolltreppe machen Bauarbeiter Lärm.

Wer jetzt noch unterwegs ist, will schnell nach Hause oder in die Bars und Kneipen der Stadt. Ein Obdachloser sammelt Müll vom Boden auf. Sprechen will hier niemand, die meisten schlafen schon. Aber es zeigt sich auch: Wer ganz unten angekommen ist, womöglich schon lange auf der Straße lebt, hat kaum Kapazitäten, darüber zu reflektieren – auch nicht mit irgendwelchen Reportern. Unter einem Schlafsack ist der Bettler aus der Teestube zu erkennen. Im Laufe der Nacht dürfte es hier noch voller werden. Ob auch Markus kommt? Und was Gabriel wohl gerade tut, ob er noch unterwegs ist oder wieder jemandem ein Obdach gewährt? Bis 6 Uhr morgens können die Menschen hier in der Hauptwache bleiben, dann werden sie und all die anderen wieder um eine Wohnung kämpfen – oder einfach nur ums Überleben.

Zur Person

Die Teestube Jona

Die Idee, eine Begegnungsstätte für Ausgegrenzte aufzubauen, entstand in einer katholischen Gemeinde in Eschborn nahe Frankfurt. 1985 mietete die eigens gegründete Projektgruppe Bahnhofsviertel die Räume der Teestube am Frankfurter Hauptbahnhof, 1995 kaufte sie ein Haus in Frankfurt-Sindlingen, wo sieben wohnungslose Männer übergangsweise leben. Vier Sozialarbeiterinnen, drei Bundesfreiwillige und 20 Ehrenamtliche unterstützen die Klienten. Weil es in den Abendstunden kaum Angebote für Obdachlose gibt, öffnet die Teestube sonntags bis donnerstags von 16 bis 22 Uhr. Außerdem gibt es dort einen Spielenachmittag, eine Kochgruppe, ein Frauenfrühstück und das Männercafé. 2016 standen für die Teestube 209.000 Euro zur Verfügung, davon 75 Prozent aus staatlichem Zuschüssen. Kontakt

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