Gratis-Interview Reinhard Mey

Reinhard Mey

„Man muss das Unglück gespürt haben, um das Glück zu begreifen.“

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  • Paula Winkler
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14. Februar 2020, Berlin-Frohnau. Gerade hat Reinhard Mey das Kaffeehaus Zeltinger betreten, da spricht ihn ein älterer Herr an. Er entpuppt sich als ein Klassenkamerad aus Grundschulzeiten, Mey hätte ihn nicht erkannt, hat aber gute Erinnerungen an ihn. Die Bedienung weiß, was dem prominenten Gast schmeckt, er bekommt grünen Tee serviert, ohne jeden Schnickschnack. Der liegt dafür auf dem Tisch, denn es ist Valentinstag und das Café entsprechend dekoriert. Reinhard Mey legt die Lederjacke und den roten Schal ab – „den darf ich nachher nur nicht vergessen, sonst gibt’s zu Hause Ärger.“

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Anm. d. Redaktion: Das Interview fand vor der Corona-Krise statt, wir haben das Gespräch daraufhin nicht verändert oder angepasst, Reinhard Mey jedoch gebeten, zwei zusätzliche Fragen zu beantworten, die wir an sinnvoller Stelle eingefügt und deutlich markiert haben.

Schauen Sie mal, Herr Mey, man hat uns kleine glitzernde Valentinstagsherzchen auf den Tisch gelegt.

Oh ja, wie herrlich. Es ist gleichermaßen beeindruckend und bescheuert, wie es der Industrie geglückt ist, die Leute von diesem Tag und seinem Konsumpotenzial zu überzeugen. Wir hatten schon Halloween, nun also den Valentinstag. Den ich natürlich boykottiere, weil ich mich da nicht reinzwängen lassen möchte. Wobei ich gerade allerhand Schülerinnen gesehen habe, die eine Blume in der Hand hielten. Noch beeindruckender ist, dass die Industrie die Hemmungen von 13- oder 14-Jährigen überwunden hat, dem anderen Geschlecht eine Freude zu bereiten.

Sie haben sich einmal als leidenschaftlicher Betrachter der Welt beschrieben. Wenn Sie das tun, sehen Sie dann heute mehr Ein- oder mehr Zweideutigkeiten?

Ich sehe beides, was zu einem größeren Durcheinander führt, als ich es früher wahrgenommen habe. „Die Welt geht aus den Fugen“, das habe ich Ende der 80er-Jahre im Lied „Die Mauern meiner Zeit“ gesungen, wobei mir damals noch gar nicht so sehr aufgefallen war, dass – so der Titel eines alten Schweizer Films – „Matto regiert“, der Wahnsinn regiert. Vielleicht geht das einher mit der Weitsicht eines bereits für längere Zeit gelebten Lebens, aber ich habe das Gefühl, es geht drunter und drüber.

Aber ging es nicht gerade auch in den 60er- und 70er-Jahren drunter und drüber?

Ich denke, der Wahnsinn sah einfach etwas anders aus, trat nicht so offen zutage. Aber wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass die Summe des Wahnsinns in der Welt immer gleichbleibt.

„Einige tun sich sehr schwer damit, sich selbst an sinnvolle Regeln zu halten.“

Auf Ihrem Konzertalbum von 1986 beschweren Sie sich charmant, dass sie ständig auf der Bühne von Fotografen fotografiert werden, in einem Lied wettern Sie gegen den vorweihnachtlichen Konsumterror, der bereits im Spätsommer beginnt. Ähnliches findet man bis heute zuverlässig als Klagen bei Instagram oder Facebook…

Sie sehen, die Symptome des Wahnsinns sind älter, als man denkt. Wobei das früher häufig Beobachtungen waren, über die ich hinweggelächelt habe. Das funktioniert heute nicht mehr, das Bedrohungspotenzial der Verrücktheiten hat sich gesteigert. Ich erkenne das insbesondere an der fehlenden Kompromissbereitschaft zwischen den Interessengruppen. Es wird nicht mehr debattiert, es wird geschimpft, verdächtigt und angeklagt. Für gesellschaftliche Debatten ist das eine schlechte Diskussionsgrundlage. Zumal das Internet mit seiner Geschwindigkeit und seinem Gedächtnis das Problem noch verschärft: Was einmal gesagt wird, verbreitet sich rasant und wird nie wieder vergessen.

In Ihrem Wikipedia-Eintrag steht zum Beispiel immer noch die Geschichte mit den rasenmähenden „Gartennazis“ von Sylt.

Wobei dieses Problem nach wie vor besteht! (lacht) Alle Leute aus der Gemeindeverwaltung Kampen sind auf meiner Seite, es gibt die wunderbarsten Verordnungen zur Lautstärke von Maschinenmotoren – aber kein Schwein hält sich daran. Auch das ist ein Phänomen dieser Zeit, einige tun sich sehr schwer damit, sich selbst an sinnvolle Regeln zu halten. In einer Autobahnbaustelle, wo 80 km/h angesagt sind, fahren sie alle grundsätzlich 100 bis 110, und das ist nicht gut, denn diese Regel ist dafür da, Schaden von den Menschen abzuwenden, das haben sich die Verkehrsplaner gut überlegt. Eine Tachonadelbreite mehr wäre ja noch in Ordnung, alles darüber aber ist eine Gefährdung, die in Kauf genommen wird. Man muss nicht blind allem folgen, was einem vorgeschrieben wird, man sollte aber unterscheiden können: Handelt es sich um eine sinnvolle oder blödsinnige Vorschrift? Das wird jedoch häufig nicht mehr getan, stattdessen wird sie einfach ignoriert.

Während man am Valentinstag den Konsumimpulsen der Industrie folgt.

Genau, da ist etwas ins Rutschen geraten. Was zu fehlen scheint, ist der gesunde Menschenverstand. Deswegen sagte ich ja: „Matto regiert.“ Mehr noch, hier zeigt sich ein Mangel an Bildung, besonders an Herzensbildung – also emotionaler Intelligenz. Das offenbart sich an kleinen Dingen, zum Beispiel an den Momenten, wenn Menschen ein Wartezimmer betreten. Früher sagte man sich dort „Guten Tag“, heute macht das kaum noch jemand – und wenn, dann trifft er auf ein großes Schweigen. Wie gesagt, ein winziges Symptom, aber doch ein Ausdruck davon, dass sich viele von uns nicht ganz geheuer zu sein scheinen. Vielleicht sogar: spinnefeind. Und das ist jammerschade.

Woraus resultiert das?

Angst. Desinteresse. (überlegt) Mir scheint aber tatsächlich die Angst einer der Hauptmotoren dafür zu sein.

Angst wovor?

Das ist eine gute Frage. Angst, den Platz zu verlieren. Da sind wir wieder beim Wartezimmer, da ist jeder, der „Guten Tag“ sagt, ein vermeintlicher Schleimer, der sich einen guten Platz erschleichen möchte.

„Freundlichkeit kostet nichts, bringt viel Freude, fällt mir nicht schwer.“

Eines der großen Themen Ihres Lebens ist die Freiheit. Wie lässt sich diese mit Regeln in Einklang bringen?

Ganz einfach, meine Freiheit hört da auf, wo sie die Freiheit eines anderen einschränkt. Wo sie, Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung, den anderen gefährdet, behindert oder mehr als den Umständen entsprechend belästigt. Das ist eine kluge Regel, ich kann sie auch volkstümlich formulieren: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Das ist ein sehr einfaches Prinzip, und nach ihm würde die Menschheit funktionieren. Mit der Idee von Freiheit, nach der man tagsüber am dicht befahrenen Ku‘damm einen Formel-Eins-Start mit quietschenden Reifen hinlegen, einen Coffee-to-go-Becher nach Belieben in die Büsche schmeißen oder Menschen rassistisch oder frauenfeindlich behandeln darf, ganz sicher nicht. Dennoch wird es häufig gemacht, häufig in Kauf oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Und hier deutet sich – großes Wort, ich weiß – eine Verrohung der Sitten an. (überlegt) Wobei, ganz so rabenschwarz ist es natürlich nicht. Es gibt Grautöne, es gibt vor allem ganz wunderbare Farbtupfer. Und doch: Fehlende Rücksicht ist ein Symptom.

Ihr Weg, dagegenzuhalten?

Freundlichkeit. Kostet nichts, bringt viel Freude, fällt mir nicht schwer. Den Menschen einfach signalisieren, dass man nicht vorhat, im nächsten Moment die Waffen zu ziehen. Ich gehe in der Woche drei-, viermal denselben Weg, da trifft man bestimmte Leute schon mehrmals. Einer ist dabei, der hat nie zurückgegrüßt, und ich dachte mir: Den knackst du irgendwann. Also habe ich diese Person so penetrant immer weiter gegrüßt, bis sie eines Tages tatsächlich mein „Guten Tag“ erwiderte. Heute sehe ich diesen Menschen schon von Weitem – und ich freue mich, er freut sich. Das ist nun viel schöner, als einsam im Nebel aneinander vorbeizutrotten, ohne sich wahrzunehmen. Und, wer weiß, irgendwann braucht man ihn. Das Leben ist einfacher, wenn man seinen guten Willen zeigt. Und auch besser.

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