Raphaël Enthoven

Raphaël Enthoven

„Die Hälfte von etwas ist besser als das Ganze von nichts.“

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  • Thomas Baltes
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Zur Person

1. September 2021, Paris, Boulevard du Montparnasse. Der Himmel über der Stadt straft seinen Ruf Lügen: „L'éternelle grisaille, die ewige Eintönigkeit, weicht einem strahlenden Blau und einer Horde fröhlich dahingaloppierender weißer Wolken. Raphaël Enthoven, Philosoph, Schriftsteller, Provokateur, schwärmt von diesem Himmel. Auf der Dachterrasse der Éditions de l'Observatoire, seines Verlags, zündet er sich eine Zigarette an und trinkt eine Tasse Kaffee. Enthoven ist verliebt in dieses Land, jedoch ganz ohne rosarote Brille. Das republikanische Ideal stellt für ihn eine konkrete Utopie dar – trotz aller Unzulänglichkeiten. Ein Gespräch über den Menschen in der Revolte, ein Plädoyer für das Maß und die leidenschaftliche Vernunft.

Raphaël Enthoven, Frankreich wirkt in vielen Filmen immer noch märchenhaft klischiert. Warum gibt es weiterhin diese Sehnsucht nach „la vie en rose“?

Für einen Franzosen ist es schwer vorstellbar, dass dieses Land im Ausland so günstig dargestellt wird. Vielleicht liegt es daran, dass Frankreich auf dem Papier eine Art perfektes Land darstellt: nicht zu groß, nicht zu klein, es bietet verschiedene Klimazonen, dazu Berge, Seen, köstliches Essen – und der Gedanke, dass wir zudem die beste Literatur haben, gefällt mir natürlich auch. (lacht) In Wirklichkeit aber ist dieses Land das Gegenteil eines El Dorados. (überlegt) Ich kenne aber auch eine Menge Filme, in denen Frankreich so dargestellt wird, wie es ist: manchmal wunderbar, oft eben auch trostlos. Das Kino beschönigt Frankreich nicht. Vielleicht ist das im Ausland so, hierzulande jedenfalls nicht. Vielleicht ist es wiederum Teil der Tragödie Frankreichs, dass es auf seinen zarten Schultern Werte trägt, die dieses Land bei Weitem überragen. Frankreich verkörpert universelle Werte – und stellt doch nur einen Bruchteil dieser Welt dar.

In Ihren Texten über die französische Gesellschaft verwenden Sie Begriffe wie „radikal maßvoll“ und „leidenschaftlich vernünftig“. Weshalb haben Sie diese Neigung zum Oxymoron?

Ein Oxymoron ist keine Synthese, sondern eine Kreolisierung. Gute Bilder für eine Synthese sind lauwarmes Wasser oder heiße Schokolade. Eine Synthese verschmelzt die Qualitäten zweier Elemente zu einer Melange ohne jegliche Rauheit. Kreolisierung dagegen ist – um im kulinarischen Bereich zu bleiben – heiße Schokolade mit einer Kugel Vanilleeis. Hier geht es nicht um Zugeständnisse, es geht nicht darum, einen Mittelweg zu finden. Nein, maßzuhalten ist nach Albert Camus die größte ethische Herausforderung. Er spricht von der anstrengenden Unnachgiebigkeit, in „Der Mensch in der Revolte“ erklärt er, dass das Maßhalten die Revolte vor den drohenden Gefahren des Konservatismus wie auch der Revolution zu schützen vermag. Der Mensch in der Revolte ist also ein maßvoller Mensch, weil er nicht die einzig wahre Lösung für sich beansprucht und weil er seinem Verlangen Konturen aufzwingt, ihm eine Form gibt. Das rechte Maß ist also nicht gleichbedeutend mit Kompromiss. Es zu finden, erfordert Anstrengung. Der radikale Diskurs dagegen ist abhängig vom Kompromiss.

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