Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Michael Beier

März 2017 / Seite 3 von 3

Die Therapie dauert ein Jahr, und auch danach stehen den Betroffenen die Türen weiter offen. Wenn Sie nichts mehr von ihnen hören - ist das ein gutes Zeichen?

Das nehmen wir an, aber wir wissen es nicht. Bei unseren Nachuntersuchungen erreichen wir beispielsweise nicht alle, sondern ungefähr die Hälfte. Es gibt immer frühere Teilnehmer, die sich zu einer erneuten Untersuchung nicht bereit erklären und uns über die Gründe dafür nicht informieren. Umgekehrt können alle Teilnehmer auch nach Abschluss der Therapie von sich aus jederzeit den Kontakt wiederherstellen, was auch passiert. Wir haben hier in Berlin mittlerweile zwei Nachsorgegruppen und eben unser Netzwerk, wo wir bundesweit mit elf Standorten vertreten sind.

„Pädophilie ist eine Diagnose, kein Verbrechen.“

In der medialen Öffentlichkeit wird Pädophilie oft immer noch tabuisiert, während über die Täter und die Taten gerne reißerisch berichtet wird. Als Opfer könnte man da schnell den Eindruck gewinnen, hier ginge es eher um Dämonisierung als um Opferhilfe.

Beide Beobachtungen sind aus meiner Sicht korrekt. Zum einen ist die gesellschaftliche Befassung mit diesem auch zahlenmäßig großen Problem bis vor zehn, zwanzig Jahren ziemlich unterbelichtet gewesen. Nicht nur was die Häufigkeit sexuellen Kindesmissbrauchs angeht, die in Deutschland bei etwa 10% der Kinder liegt und die in anderen, auch europäischen, Ländern zum Teil sogar noch höher ist. Das hängt auch immer davon ab, wie eine Kultur mit Traumatisierung insgesamt umgeht und inwieweit sie bereit ist, sich für etwas zu engagieren, wo das genauere Hinschauen emotional belastend ist. Das wird nämlich gerne vermieden.

Sie gehen davon aus, dass 10% der Kinder und mehr Opfer von sexualisierter Gewalt werden?

Ja. Ich muss davon ausgehen, weil die Studiendaten diesen Schluss nahelegen. In einem bevölkerungsreichen Land wie Indien liegt die Prävalenz deutlich höher, nämlich bei 20%. Durch meine Mitwirkung an dortigen Präventionsbemühungen ist mir die Bedeutung der Kultur für die Aufrechterhaltung und sogar Förderung von sexuellem Kindesmissbrauch sehr bewusst geworden. Massive Tabuisierung des Sexuellen, Entwertung der Frau, Vorrechte nach Geburtsstand und Kastenzugehörigkeit sowie die weit verbreitete Strategie, alle Probleme innerhalb der Familie lösen zu wollen, befördern ein Abschirmen vor allem des innerfamiliären Missbrauchs, nicht selten in der Überzeugung, das Richtige zu tun. So würde man bei dem Missbrauch eines Mädchens deshalb von einer Anzeige absehen, um deren Heiratschancen nicht zu verringern. Das Dunkelfeld ist dementsprechend riesig und die Täter haben selten mit Konsequenzen zu rechnen.

Das Netzwerk

Das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ bietet kostenlose und schweigepflichtgeschützte Behandlung für Personen, die eine sexuelle Neigung zu Kindern verspüren und therapeutische Hilfe suchen. Mittlerweile wird das Projekt an Standorten in Berlin, Kiel, Regensburg, Leipzig, Hannover, Hamburg, Stralsund, Gießen, Düsseldorf, Ulm und Mainz angeboten. Darüber hinaus gibt es seit 2015 eine Nebenstelle des Regensburger Standortes in Bamberg. Die Standorte haben sich im Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden" zusammengeschlossen und arbeiten nach gemeinsamen Qualitätsstandards. Die Behandlung folgt einem strukturierten Therapieplan, berücksichtigt aber die individuellen Bedürfnisse und erfolgt in Absprache mit den Teilnehmern. Sie integriert psychotherapeutische, sexualwissenschaftliche, medizinische und psychologische Ansätze sowie die Möglichkeit einer zusätzlichen medikamentösen Unterstützung.

Das hat dann aber nichts mehr mit Pädophilie zu tun, oder?

Wir haben es, generell zusammengefasst, mit zwei Gruppen von Männern zu tun, die Kinder missbrauchen. Die einen sind die mit der Ausrichtung auf das kindliche Körperschema, und die gibt es auch in Indien. Genauso eingebunden in den familiären Nahraum wie alle anderen - das ist dann der Onkel, von dem sich die Kinder möglichst fernhalten wollen, weil ihnen die Nähe unangenehm ist. Und dann gibt es die, die sogenannte Ersatzhandlungen begehen. Das sind Menschen, die Kinder sexuell missbrauchen, weil es für sie aus verschiedenen Gründen nicht umsetzbar ist, erwachsene Partner zu finden. Diese Taten werden beispielsweise von sexuell unerfahrenen Jugendlichen oder von Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung oder einer geistigen Behinderung begangen - es sind Ersatzhandlungen für eigentlich erwünschte sexuelle Kontakte mit erwachsenen Partnern. Das passiert in Indien wahrscheinlich noch viel häufiger als in Deutschland, weil ja Jugendlichen - seitens der Familie - sexuelle Beziehungen untersagt sind. Sie müssen bis zur Eheschließung warten - die im Übrigen in den meisten Fällen arrangiert ist, also Ausdruck der Familienpolitik. Ein Smartphone besitzen aber alle Jugendlichen - selbst in den Slums - und haben somit auf diese Weise Zugang zu pornographischen Materialien. Die Annahme ist nicht abwegig, dass soziosexuelle Erfahrungen dann verstärkt mit Kindern aus dem Umfeld angestrebt werden könnten.

Um bei Deutschland zu bleiben: Was würden Sie sich von den verschiedenen Akteuren wünschen? Also von den Tätern, von den Opfern, von der Gesellschaft insgesamt?

Ich wünsche mir ein Ineinandergreifen von Verantwortungsübernahme auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen: einen Ausbau des Opferschutzes, Aufklärung und Prävention an Schulen, aber auch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte und andere Berufsgruppen. Je mehr wir gesellschaftlich aufklären und ein gesamtgesellschaftliches Zeichen setzen, dass wir Missbrauch nicht dulden, umso größer sind die Chancen, dass es gar nicht erst zu Übergriffen kommt. Es sollte klar sein, dass sexueller Missbrauch die psychosozialen Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen tangiert, also ihr Bedürfnis nach Nähe, nach Anerkennung, nach Zärtlichkeit, Zuwendung und Geborgenheit. Die meisten Taten werden von Menschen begangen, denen Kinder und Jugendliche ihr Vertrauen geschenkt haben. Der Missbrauch dieses Vertrauens prägt das Schicksal der Betroffenen und darum bedarf es eines funktionierenden Hilfesystems, um ihnen für ihr weiteres Leben möglichst rasch wieder Vertrauen in das Gelingen von Beziehungen zurückzugeben. Zudem bedarf es aber auch des Ausbaus primärpräventiver Diagnostik- und Behandlungsangebote, um potenzielle Täter, wie Menschen mit pädophiler Neigung, zu erreichen, bevor es zu Taten kommt.

Worauf können die Betroffenen hoffen, die sich an Ihr Präventionsprojekt wenden? Und was sollten sie mitbringen?

Sie können davon ausgehen, dass sie hier niemand wegen ihrer pädophilen Neigung verurteilt. Pädophilie ist eine sexuelle Präferenzbesonderheit, die bei 1 % der männlichen Bevölkerung vorkommt und sich zunächst einmal in den Phantasien äußert. Phantasien sind keine Taten, und wenn sie Phantasien bleiben, gibt es keine Opfer. Pädophilie ist eine Diagnose, kein Verbrechen. Was ich von Betroffenen erwarte ist Offenheit, weil wir nur dann unsere Expertise adäquat einsetzen können. Und ich erwarte Verantwortungsübernahme - nämlich selber anzustreben, dass Kinder nicht sexuell traumatisiert werden. Dann können wir sehr gut dazu beitragen, dass die Betroffenen zum einen lernen, ihre sexuelle Ausrichtung zu akzeptieren und in ihr Selbstbild zu integrieren und zum anderen dauerhaft in ihrem Leben in der Lage sind, ihr Verhalten so zu kontrollieren, dass Kinder keinen Schaden nehmen. Dafür bekommen sie unsere volle Unterstützung und verdienen aus meiner Sicht auch gesellschaftliche Anerkennung: Ich wüsste nicht, warum ein Mensch, der pädophil ist und sich voll kontrollieren kann, keinen Anspruch auf soziale Teilhabe haben sollte - nämlich so, wie jeder andere auch.

Hat Sie die fast 30 Jahre andauernde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen auch als Person verändert?

Es hat meinen Blick auf die menschliche Existenz enorm erweitert, was ich als große Bereicherung empfinde. Ich lerne von buchstäblich jedem Patienten dazu, und das gibt mir ein immer breiteres Bild über die menschliche Sexualität, die ich für einen Schlüssel zum Menschen überhaupt halte. Es gibt keine Spezies, die diese Vielfalt sexueller Erscheinungsformen aufweist, es muss also mit dem menschlichen Gehirn und mit der Kultur zu tun haben. Und das Faszinierende ist das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Kultur - es sorgt für diese unendliche Vielfalt, die nach wie vor dazu angetan ist, die Neugier in mir wachzuhalten.

Zur Person

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Michael Beier, geboren 1961, ist Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité. Der promovierte Mediziner und Philosoph leitet seit 2005 das Forschungsprojekt Kein Täter werden zum Thema Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld. Das weltweit beachtete Therapieangebot wird mittlerweile in elf deutschen Städten angeboten, aktuell laufen Nachuntersuchungen ehemaliger Teilnehmer. Seit 2014 gibt es unter seiner Leitung auch ein entsprechendes Präventionsprojekt für Jugendliche. Beier lebt in Berlin.

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