Gratis-Interview  Praxis ohne Grenzen

Praxis ohne Grenzen

Zu arm, um krank zu sein

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  • Matthias Oertel
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„Gesundheit ist ein Menschenrecht“ heißt es in der 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechts-Charta. Nicht zuletzt aufgrund dieses Postulats herrscht in Deutschland seit Jahren die Krankenversicherungspflicht. Dennoch rutschen immer mehr Menschen auch hierzulande durch das soziale Netz. Dabei ist aber vordergründig nicht die Rede von Flüchtlingen, Obdach- oder Arbeitslosen – es geht um den zusehends verarmenden Mittelstand. Um diese Klientel kümmert sich der Bad Segeberger Arzt Dr. Uwe Denker mit seiner Initiative „Praxis ohne Grenzen“. Er behauptet: „Wir steuern auf eine Katastrophe zu – eine schleichende Katastrophe unter Ausschluss der Öffentlichkeit.“ Wir haben seine Arbeit sowie seine Patienten unter die Lupe genommen.

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Eigentlich ein schönes Leben

Klaus-Peter K. ist 67, wirkt aber auf den ersten Blick höchstens wie Mitte 50. Der Teint ist gesund, das Gesicht zeigt kaum Falten, außerdem lächelt er viel. Dass dieses Lächeln eher ein Weglächeln ist als ein unverstellter Ausdruck der Freude, das überspielt er zunächst gut. Erst wenn er sich etwas schwerfällig erhebt und mit kleinen, unsicheren Schritten das Café im Hamburger Stadtteil St. Georg durchmisst, sieht man, dass es dem Diplom-Kaufmann offenbar nicht gut geht. Seit vielen Jahren habe er schweren Diabetes, gepaart mit kontinuierlich zunehmendem Übergewicht, wird er später berichten. Außerdem habe er lange mit dem Noro-Virus zu kämpfen gehabt, auch habe er eine schwere Darmkrebs-Erkrankung überwinden müssen.

„Verglichen mit diesen Ereignissen geht es mir aktuell sogar vergleichsweise gut“, sagt er – und das, obwohl auch jetzt kaum eine Woche vergehe, „wo ich nicht bei irgendeinem Spezialisten sitze, um Werte überprüfen zu lassen. Mit Ärzten in Hamburg kenne ich mich aus“, lacht er – wieder dieses Lachen, das eigentlich bitter sein müsste, aber doch sehr freundlich wirkt. „Falls Sie mal irgendwas haben, egal was: Ich kann Ihnen garantiert den optimalen Arzt für Ihr Problem empfehlen.“ Trotz dieser gesundheitlichen Einschränkungen liebt K. das Leben. Lange hatte er auch allen Grund dazu. Nach dem Abitur schloss der Süddeutsche ein Studium der Wirtschaftswissenschaften ab, arbeitete viele Jahre im Einzelhandel, „bevor ich mich in Richtung Immobilien orientiert habe. Das hat mich immer interessiert: Dieses Arbeiten mit Menschen, auch diese Freude, wenn man einer jungen Familie eine schöne Wohnung vermitteln kann. Da habe ich mich immer sehr mitgefreut.“

Das Angebot der „Praxis ohne Grenzen“ wird nicht zuletzt von Menschen wie Klaus-Peter K. genutzt, die eigentlich dem Mittelstand zugehörig sind.

Bei Unilever in Hamburg machte er nach einem weiteren Zusatzstudium sodann Karriere als Immobilien-Kaufmann, bis er eine Hierarchiestufe erreicht hatte, wo es irgendwie nicht weiterging. „Da habe ich den Schritt in die Selbständigkeit gewagt. Den Gedanken fand ich immer toll: der eigene Herr zu sein und alles, was man tut, auch für die eigene Tasche zu erwirtschaften.“ Es lief danach nicht immer rund, es gab auch Durststrecken, nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Erkrankungen. Doch als gebürtiger Schwabe konnte er gut rechnen. Mal schlug er sich so durch, mal hatte er einen soliden Überschuss am Ende des Jahres und konnte sich etwas gönnen. Geprotzt habe er nie, sagt er, „ich kann gut mit Zahlen. Ich habe mir nur hin und wieder etwas zugelegt, was das Leben lebenswert macht.“ Etwa einen Rassehund, die große Liebe von Herrn K., der schon sehr lange keine Partnerin mehr an seiner Seite hat.

Sozialer Abstieg kann schnell gehen

Dann kam die Finanzkrise, spätestens mit der Insolvenz von Lehmann Brothers im September 2008 „war der Immobilienmarkt auch in Deutschland tot“, wie er berichtet. Keiner kaufte oder verkaufte mehr, K.s Auftragsbücher leerten sich zusehends. Und wenn doch mal ein Geschäft zum Abschluss kam, dann unter deutlich schlechteren Bedingungen. K. erzählt von dem einen großen Deal, den er um diese Zeit betreute: Es ging um eine Verhandlungssumme von sechs Millionen Euro rund um ein zu verkaufendes Mietshaus. K. investierte viel Zeit und auch privates Geld in dieses Geschäft, am Ende einigten sich die Parteien auf einen Verkaufspreis, der gerade einmal halb so hoch lag wie veranschlagt. „Letztlich haben alle an diesem Deal irgendwie verdient, nur ich nicht. Ich ging komplett leer aus. Sicher, ich hätte klagen können, aber einen solch langwierigen Prozess hätte ich mir eh nicht leisten können.“ Stattdessen: Monate der Arbeit für nichts. Doch die Kosten liefen weiter. Und überstiegen bei Weitem K.s Mittel. Er konnte die laufenden Zahlungen nicht mehr decken, darunter auch seine private Krankenversicherung. Was angesichts seines gesundheitlichen Zustands schnell zum echten Problem geriet.

Heute ist K. in der Privatinsolvenz und lebt nach Abzug aller Kosten von 300 Euro – pro Monat, inklusive Kleidung und Lebensmitteln. Seine Rente wird von der Miete aufgefressen, auch seine Monatskarte für den Nahverkehr und sein Handy muss er selber bezahlen. Sein Hund ist schon vor einigen Jahren gestorben, „einen neuen könnte ich mir nicht leisten“. Überhaupt, sagt er, erneut lächelnd, „lassen sich damit keine großen Sprünge machen. Versuchen Sie mal, mit einem solchen Budget jemanden kennenzulernen. Man will ja nicht bis ans Lebensende allein bleiben.“

Lebensmut behalten

Woraus zieht er sich heute seine Freude? „Ach, es gibt ein paar Orte in Hamburg, wo man für zwei, drei Euro richtig gut zu Mittag essen kann. Das ist immer schön. Ansonsten bleiben mir die Abende vor dem Fernseher. Das zumindest kostet ja nicht viel.“ Im Urlaub war K. schon ewig nicht mehr. Als wir ihn danach fragen, erzählt er von einem „tollen Trip in die USA“. Erst später stellt sich heraus, dass dieser Trip in den 90er-Jahren stattgefunden hat. Wie viele, die sein Schicksal teilen, lebt K. in seinen Erzählungen in der Vergangenheit. Die Erinnerung an bessere Zeiten ist das, was sie aufrecht hält. Der Gedanke ist: Es war ja mal alles schön. Und deshalb kann das auch in der Zukunft vielleicht noch mal so kommen.

Hat er selber Fehler gemacht? Ist er zumindest zum Teil verantwortlich für sein Scheitern? „Darüber habe ich natürlich viel nachgedacht, Zeit dazu hatte ich ja“, sagt er. „Den einzigen Vorwurf, den ich mir machen muss, ist eine zu große Gutmütigkeit. Ich habe immer angenommen, dass alle Teilhaber eines Geschäftes das gleiche Ziel verfolgen wie ich, dass nämlich alle daran verdienen. Ich bin ja ein Menschenfreund. Man sagt gern, dass Makler die Bluthunde der Geldwirtschaft sind. Wenn das so ist, dann war ich so eine Art Gegenentwurf. Ich war oft einfach zu gutgläubig. Jetzt sieht man, was man davon hat.“

Und plötzlich wird seine Miene doch sehr traurig. Und auch die des Gesprächspartners, wenn man beobachtet, wie K.s Blick immer wieder auf sein uraltes Handy fällt. Das hat vor ein paar Jahren noch ständig geklingelt, man sieht die Hoffnung in K.s Augen, dass mit dem nächsten Anruf doch noch mal ein großer Deal hereinflattert – schon weil das Sozialamt von ihm trotz seiner Lebensbedingungen erwartet, dass er weiter arbeitet. Diese Hoffnung auf private Konsolidierung gibt er nicht auf, sagt er, „sonst würde das alles ja wenig Sinn machen. Ich habe letztlich noch ein großes Ziel: Die Insolvenz überstehen und aus eigener Kraft noch mal nach oben kommen. Wenn mir das gelingt, dann endet mein Leben nicht mit dem Eindruck des Versagens. Dafür stehe ich jeden Morgen auf.“ Dass er schon rein physisch wieder dazu in der Lage ist, verdankt er einer Person: Dr. Denker von der „Praxis ohne Grenzen“.

Ein Ort für Bedürftige jeder Art

Ortswechsel. Der Kirchplatz in Bad Segeberg, etwa 45 Autominuten nördlich von Hamburg, sieht exakt so aus, wie man sich den Ortsmittelpunkt einer hübschen norddeutschen Kleinstadt vorstellt. Es ist ein Mittwochvormittag, der Platz ist belegt von reichhaltig bestückten Marktwagen, die Gemeinde kauft für die Woche ein. 20 Euro am Gemüsestand, 25 beim Käsewagen, gern auch noch zwei Rumpsteaks für den Abend, Kosten: 18 Euro. Keinen dieser Einkäufe könnten sich die Patienten von Dr. Uwe Denker leisten, der im Schatten der Kirche, in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Pfarrhauses, das Denker von der Diakonie angemietet hat, die erste „Praxis ohne Grenzen“ etabliert hat.

Mittwochs ist auch der Tag der Sprechstunde in Dr. Denkers „Praxis ohne Grenzen“, die er vor allem aus einem Grund eröffnete: Damals hatte er das Höchstalter von 68 Jahren für frei praktizierende Ärzte erreicht, er musste seinen Anteil an einer gut laufenden Gemeinschaftspraxis an seine Tochter abgeben, fühlte sich aber noch viel zu jung für den Ruhestand. Er sah Bedarf und wusste, dass selbst in Deutschland, wo seit Jahrzehnten die Krankenversicherungspflicht gilt, Menschen ohne ausreichenden Versicherungsschutz leben.

Also gründete er 2010 die „Praxis ohne Grenzen“, die man auch umschreiben könnte mit „Praxis ohne Kasse“. Der Gedanke: Jeder wird behandelt, der kommt – ungeachtet seiner sozialen Stellung. Hat er keinen oder nur einen unzureichenden Versicherungsschutz, ist er hier richtig. Man versucht nach Kräften, ihm zu helfen, ihn mit Medikamenten ohne Zuzahlung zu versorgen, gegebenenfalls an einen Spezialisten zu vermitteln, der ebenfalls unentgeltlich behandelt – und im echten Ernstfall eines notwendigen Krankenhaus-Aufenthaltes sogar die dabei entstehenden, horrenden Kosten zu übernehmen. Es wird auch nicht überprüft, ob ein Patient tatsächlich mittellos ist – das verbietet der Respekt vor der Würde derer, die sich in die Praxis trauen. Man geht einfach davon aus, dass kein Missbrauch betrieben wird. „Und tatsächlich habe ich bis heute nicht ein Mal das Gefühl gehabt, dass sich da jemand medizinische Versorgung oder Medikamente erschleicht. Wer zu uns kommt, ist wirklich bedürftig“, so Denker.

Schon bei seiner ersten Sprechstunde, damals noch in einem Besprechungsraum der AWO, war er selber überrascht von der Klientel, die zu ihm kam: „Ich hatte damit gerechnet, dass Obdachlose oder Flüchtlingsfamilien mich aufsuchen“, erzählt er. „Stattdessen kamen fast ausschließlich Mittelständler – Schreiner und Metzger, Journalisten und Fotografen, kurz: alle Berufsstände, in denen man viel Freiberuflichkeit findet.“ Sie alle waren in finanzielle Schieflage geraten, hatten die monatlichen Zahlungen an ihre Krankenversicherung nicht mehr leisten können, wurden heruntergestuft in den sogenannten „Notlagen-Tarif“, der aber nicht einmal das Allernötigste abdeckt. Selbst eine schwere Krebs-Erkrankung zählt beispielsweise nicht dazu.

Der Mundraum: Ein Indiz für Armut

Kommt ein Patient zum ersten Mal zu ihm, schaut er ihm häufig erst mal in den Mund: „Der Zustand der Zähne verrät viel über den Zustand der sozialen Schieflage eines Patienten“, weiß Dr. Denker. Ein typisches Beispiel dafür sitzt heute auf der anderen Seite seines Tisches: ein freier Grafiker, Mitte 40. Von der Erscheinung her käme man nie auf die Idee, dass er ein finanzielles Problem hat: Er trägt modische Markenklamotten, an den Füßen teure Sneaker. Während er im Wartezimmer auf seinen Termin wartet, tippt er auf ein iPhone ein.

Doch als er den Mund öffnet, sieht man ein Kriegsgebiet. Ihm fehlen vier Kronen, an ihrer Stelle stecken ein paar Zahnreste, die er sich fünf, sechs Mal am Tag reinigen muss – „sonst läge ich abends garantiert mit höllischen Zahnschmerzen im Bett.“ Ganz zu schweigen von der deutlich gelben Farbe der restlichen Zähne, bedingt durch starkes Rauchen. „Ich bin schon vor langer Zeit auf Selbstgedrehte umgestiegen, Filterkippen kann ich mir nicht leisten“, erzählt er. „Nur machen die halt die Zähne gelber. Aber zumindest ist das Selbstdrehen heute kein Indiz mehr für sozialen Abstieg. Im Gegenteil, es ist ja zum Glück derzeit wieder hip, gerade in der Kreativwirtschaft.“ Eine Sache, die ihm sehr wichtig ist: das Gesicht wahren. Nach außen hin den Eindruck vermitteln, „dass alles cool ist. Das allein kostet manchmal ganze Arbeitstage, mal abgesehen von der dabei investierten Energie: so zu tun, als sei man schrecklich busy. Tatsächlich aber versucht man, genug Geld aufzutreiben, um sich die Zugfahrt zu einem Kundenmeeting leisten zu können.“

Dr. Denker suchte er nun auf, weil er vor einiger Zeit einen schweren Fahrradunfall hatte. Zwar fand er gleich am nächsten Tag einen Arzt, der ihn auch ohne ausreichenden Versicherungsschutz oberflächlich untersuchte, röntgte und außer schweren Prellungen und Bänderdehnungen keine schlimmeren Schäden feststellen konnte. Drei Wochen harte Schmerzmittel mussten den Rest regeln.

Und doch hat der Patient nun dauerhafte Beschwerden, von massiven Rückenverspannungen über wiederkehrende Kopfschmerzen bis hin zu einer aus seiner gesamten Lebenssituation resultierenden Antriebslosigkeit: „Dieser Unfall war irgendwie sinnbildlich für meinen Zustand: Man ist brutal angezählt, kommt nicht mehr hoch, weil man sich fragt: wofür noch? Ich fürchte, ich bräuchte eine Therapie, um das in den Griff zu kriegen. Aber die bekäme ich vermutlich nicht mal dann bezahlt, wenn mein Versicherungsschutz noch bestehen würde.“ Selbst hier kann Dr. Denker indes Positives in Aussicht stellen: Zu dem Team aus mittlerweile über 70 Ärzten und medizinischem Fachpersonal, das die „Praxis ohne Grenzen“ ehrenamtlich unterstützt, gehören neben vielen Fachärzten auch Psychologen und Psychiater.

Ein typischer Patient

Sich im Detail porträtieren lassen möchte der Grafiker nicht, „ich arbeite selber im editorialen Bereich.“ Aber einen kurzen Abriss seiner Geschichte gibt er dann doch: „Seit 15 Jahren bin ich selbständig und habe für zahlreiche Magazine und Corporate Publishing Agenturen als Freelancer gearbeitet. Lange lief es gut – bis die Krise der Printbranche nach und nach auch bei mir ankam. Viele Kunden reduzierten die Anzahl ihrer Mitarbeiter, insbesondere bei Fotos und Grafik wurde eingespart. Andere haben dich über Monate weiter beschäftigt, um etwas Geduld bei der Bezahlung gebeten, um dir dann zu sagen: „Sorry, wir haben kein Geld mehr.“ Es gibt Magazine, bei denen mehr als 5.000 Euro an Honoraren offen sind. Die, von denen man noch Aufträge erhält, haben, seit ich mich selbständig gemacht habe, die Honorare nicht ein Mal angehoben, meist eher das Gegenteil – bei ständig steigenden Unkosten. So kam eins zum anderen. Und irgendwann hat dich dann halt das Finanzamt an der Gurgel und dreht dir den Hahn zu. Spätestens da war es vorbei mit den PKV-Beiträgen.“ Bislang habe er die Privatinsolvenz noch abwenden können, „weil ich kämpfe. Aber die monatlichen Verbindlichkeiten bei Gläubigern fressen alles auf.“ Im Prinzip lebe er von dem sukzessiven Abverkauf rarer Comics über Ebay. In besseren Zeiten hat er sich eine große Sammlung zugelegt, „die ich nun Stück für Stück veräußere. Bei jedem einzelnen Exemplar tut es ein bisschen weh, denn ich war sehr stolz auf meine Sammlung.“ Nun bringen ihn zwei, drei verkaufte Comics über das nächste Wochenende.

Kein Einzel- sondern Regelfall

Zwei bedauerliche Einzelfälle? Keineswegs – wie man schnell erfährt, wenn man sich mit Dr. Denker unterhält. Geschichten wie die hier geschilderten sind vielmehr die Regel dessen, was ihm Woche für Woche in seiner Praxis begegnet. Genaue Zahlen dazu sind schwer zu ermitteln, nicht zuletzt aufgrund der Scham vieler Betroffenen, sich mit ihrer finanziellen Misere zu outen; viele vermeiden selbst im schlimmsten Krankheitsfall den Gang zum Arzt, da man insbesondere in Deutschland eben schnell als Totalversager gilt, wenn die eigene Existenz aus den ökonomischen Fugen gerät.

Das Bundesgesundheitsministerium spricht von etwa 80.000 nicht ausreichend krankenversicherten Personen in Deutschland, Dr. Denker geht nach seinen eigenen Erfahrungen im Kreis Bad Segeberg mindestens von der zehnfachen Anzahl aus – was einem Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung entspräche. „Wahrscheinlich liegt die Dunkelziffer aber bei weit mehr als zwei Millionen“, sagt er, „weil man von vielen Fällen eben niemals etwas mitbekommt.“

Ganz zu schweigen von den Kindern, die ihm die größten Sorgen bereiten. „Durch das System der Familienversicherungen sind Tausende von Kindern in Deutschland nicht krankenversichert – sobald der Vater die Beiträge nicht mehr bezahlen kann, steht die ganze Familie ohne Schutz da.“ Auch deshalb gäbe es immer mehr alleinerziehende Mütter und Väter, die seine Praxis aufsuchten. „Da fehlt es oft selbst an den grundlegendsten Impfungen und Untersuchungen, die für das Wohl des Kindes absolut unerlässlich sind.“

So schön das also klingt mit der deutschen Versicherungspflicht für den Krankheitsfall – was nützt das, wenn der Einzelne das nicht mehr bezahlen kann? Insbesondere im Kontext des weltweit einmaligen „dualen Systems“ aus gesetzlicher und privater Krankenkasse? Warum dieses System einst etabliert wurde – mal abgesehen von der ursprünglichen Idee, auch im Gesundheitssystem mehr Wettbewerb und individuelle Anpassungsmöglichkeiten zu gewährleisten – kann niemand so recht begründen; was man aber weiß, ist, dass es heute zahlreiche Probleme hervorruft.

Beginnend mit der absurden Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherungen: Warum etwa darf ein vormals privat Krankenversicherter, der wieder eine Festanstellung findet, nicht in die gesetzliche Krankenkasse zurückwechseln? Oder einer, der in den Notfall-Tarif abrutschte, nach finanzieller Erholung nicht zurück in den Regeltarif (denn hier gilt tatsächlich: einmal notversorgt, immer notversorgt)? Warum besteht nicht die Möglichkeit für einen Freiberufler, ähnlich wie bei flexiblen Bankendarlehen auch die Beitragssätze – und damit verbunden auch die Leistungen der Krankenkasse – an die jeweilige finanzielle Situation anzupassen? Warum ist, ganz allgemein, das System der Sozialversicherung in Deutschland derart starr, ja geradezu starrsinnig – und damit in entscheidenden Punkten inhuman? Warum deckt ein Notlagen-Tarif nur akute Notfälle und Schmerzzustände ab und lässt es zu, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen vor sich hinsiechen und schlimmstenfalls sogar versterben? Und dies alles in einem Land, das sich rühmt, ein internationaler Vorreiter der sozialen Absicherung zu sein? Und per se eines der reichsten Länder der Welt ist?

Probleme, Probleme

So sind all die politischen Aktionen von stets vollmundig „Gesundheitsreform“ genannten Bestrebungen nichts weiter als Flickwerk und oberflächliche Kosmetik, um die schlimmsten Missstände zu beseitigen. Für eine tatsächliche Reform müsste das gesamte System überarbeitet und neu strukturiert werden, und das wird so schnell nicht geschehen, wenn überhaupt. Schon weil mit den auch politisch wirkmächtigen Krankenkassen und Ärztekammern – und erst recht angesichts der kaum noch zu bändigenden Pharmalobby – zahlreiche Entscheider mit am Tisch sitzen, die überhaupt kein oder zumindest ein sehr widersprüchliches Interesse an grundsätzlichen Reformen haben. Selbst die kleinsten Schritte sind schwierig, seien sie auch noch so logisch; beispielsweise die Minderung des Zinssatzes auf ausstehende Krankenkassenbeiträge.

Sogar Jens Spahn, vormals gesundheitspolitischer Sprecher der CDU, bezeichnete den von den Krankenkassen veranschlagten Zinssatz von fünf Prozent pro Monat auf die gesamte Schuldsumme als „regelrechten Wucher“. 2013 erfolgte – nicht zuletzt auf Dr. Denkers Engagement hin – auch eine Anpassung des Zinssatzes, auf nun zwölf Prozent per anno. Doch was nützt dieser Zinssatz egal welcher Höhe, wenn schon die eigentlichen Beiträge nicht bezahlt werden können? Das einzige, was dabei stetig steigt, ist die Schuldenfalle des Einzelnen – die eben auch immer mehr Privatpersonen in die Insolvenz treibt. 2011 übersprang die Zahl der sogenannten Verbraucherinsolvenzverfahren erstmals die magische Hürde von mehr als 100.000 Fällen pro Jahr, Tendenz weiterhin rapide steigend.

Auch an dieser Front kämpft Dr. Denker bundesweit, steht in regelmäßigem Kontakt mit politischen Vertretern – und hat von seinen „10 Forderungen der Praxis ohne Grenzen“ (siehe Kasten) auch schon einiges erreicht. Und doch wirkt etwa eine für einen Sozialstaat wie Deutschland überfällige Forderung der kostenlosen Krankenversicherung für Kinder wie ein besonders groteskes Bonmot aus „Wünsch dir was“. Nach nunmehr knapp siebenjähriger Erfahrung mit seiner „Praxis ohne Grenzen“ prognostiziert Dr. Denker, dass immer mehr Menschen in Deutschland durch Krankheit in die Armut getrieben werden, und wir sprechen hier nicht von der allseits diskutierten Altersarmut, sondern von Personen, die, wie unsere Beispiele, eigentlich mitten im (Arbeits-)Leben stehen.

„Als ich die ersten Male bei Krankenhäusern anrief und um einen Kostenvoranschlag für eine OP bat, damit wir hier planen können, wurde ich für vollkommen verrückt erklärt“, berichtet er schmunzelnd. „Es hieß einfach: So etwas machen wir nicht. Ich musste daraufhin zahllose Telefonate führen, nur um überhaupt einen Kostenvoranschlag zu bekommen – geholfen war dem betroffenen Patienten damit noch lange nicht. Inzwischen haben sich einige Krankenhäuser an meine Anrufe gewöhnt und kommen mir oft im Rahmen ihrer Möglichkeiten entgegen.“

Dr. Denker hat daher den so klaren wie wahren Grundsatz formuliert: „Krankheit macht arm – Armut macht krank.“ Einmal in diesem Kreislauf, gibt es für den Betroffenen kaum noch ein Entrinnen. Bei Krankenhaus-Aufenthaltskosten von 500 Euro pro Tag für ein normales Bett und über 2.000 Euro pro Tag für einen Platz auf der Intensivstation kann sich jeder ausrechnen, wie schnell eine notwendige Behandlung unbezahlbar wird.

Selbst das ficht Dr. Denker nicht an. Natürlich muss die „Praxis ohne Grenzen“ weiterhin sparsam mit glücklicherweise recht luzide fließenden Spendengeldern umgehen; doch wenn einmal ein Krankenhaus-Aufenthalt oder eine Operation für einen seiner Patienten unumgänglich ist, hängt sich Dr. Denker stundenlang ans Telefon und bemüht sich darum, ein Krankenhaus zu finden, das die notwendigen Behandlungen zu einem fairen und für die Praxis bezahlbaren Preis übernimmt.

22 Tonnen Medizin

Dabei sah das alles zu Beginn seiner Arbeit mit der „Praxis ohne Grenzen“ noch ganz anders aus. Alles schien durch ein vermeintlich kleines Problem finanziell zu explodieren und der Gedanke der „Praxis ohne Grenzen“ schien damit kaum umsetzbar: Die Rede ist von Medikamenten. Denn neben Geld- und Sachspenden, mit denen die „Praxis ohne Grenzen“ peu à peu zu einer vollwertigen Allgemeinpraxis mit allen notwendigen medizinischen Geräten ausgestattet werden konnte, setzte die Idee auch auf den unbestreitbar vorhandenen Überschuss an nicht verwendeten Medikamenten, die die Praxis einsammeln und an ihre Patienten weitergeben wollte. Nur lässt das deutsche Arzneimittelgesetz genau das nicht zu – angeblich zum Wohle des Menschen, tatsächlich aber eher zum Wohle der Pharmalobby.

Dr. Denker erzählt: „Jede Woche rufen mich Menschen an und sagen Dinge wie 'Mein Vater ist verstorben und hat schränkeweise Medikamente hinterlassen. Soll ich die Ihnen vorbeibringen?' Und ich kann immer nur antworten: 'Nein, das dürfen wir nicht annehmen. Bitte schmeißen Sie alles in den Müll.' Jährlich werden allein im Kreis Bad Segeberg auf diese Weise mehr als 22 Tonnen von nicht abgelaufenen Medikamenten entsorgt, die Bedürftige noch sehr gut hätten gebrauchen können.“ Dass dadurch all diese Substanzen in den natürlichen Kreislauf gelangen und damit wiederum die Gefahr der Entstehung neuer multiresistenter Keime massiv erhöht wird, ist ein zusätzlicher Skandal, der hier aber gar nicht weiter thematisiert werden soll. So wurde das Verschreiben und Ausgeben von Medikamenten zu einem festen Kostenfaktor der „Praxis ohne Grenzen“, der so ursprünglich überhaupt nicht vorgesehen war. Mehrere Tausend Euro Spendengelder pro Monat nimmt dieser Bereich nun in Anspruch – Geld, das an anderer Stelle dringend gebraucht würde. Grob gesagt ließe sich, wenn man diesen Posten reduzieren oder gar eliminieren könnte, alle drei, vier Monate eine weitere Nierentransplantation auf Kosten der „Praxis ohne Grenzen“ bezahlen.

Der Bedarf ist hoch

Apropos „brauchen“: Wie hoch der Bedarf an kostenloser ärztlicher Behandlung ist, sieht man schon an entsprechenden Nachahmern, denn – und das ist die schöne Nachricht – die Idee von Dr. Denker hat insbesondere in Norddeutschland Schule gemacht. Vor sieben Jahren erst begann Dr. Denker mit seiner Arbeit, damals nur „bewaffnet“ mit einem Arztkoffer und einem starken humanistischen und auch christlichen Antrieb (wobei er sagt, dass sie das „Christliche“ nicht an die große Glocke hängen, weil es möglicherweise Bedürftige anderer Glaubensrichtungen abschrecken könnte, Anmerkung d. Verf.). Inzwischen existieren allein in Norddeutschland neun Praxen ohne Grenzen, in Hamburg und Mainz gibt es mittlerweile sogar regelrechte Ambulanzen mit breit aufgestellten Ärzteteams, die sich um mittellose Kranke rührig kümmern.

Die „Praxis ohne Grenzen“ in Bad Segeberg: ein unscheinbarer Ort mit großer Bedeutung.

Bei jeder Neueröffnung steht Dr. Denker mit Rat und Tat zur Seite. Auf der Homepage der „Praxis ohne Grenzen“ gibt er erste Tipps, was alles zu berücksichtigen ist, sollte man als Arzt das Bedürfnis verspüren, eine eigene „Praxis ohne Grenzen“ zu eröffnen. Und all das scheint erst der Anfang zu sein – in einem Land, in dem es angeblich medizinische Vollversorgung gibt. „Traurig genug, dass es diesen Bedarf gibt“, so Denker. „Aber schön, dass sich meine Idee so weiter trägt.“

Das alles sollte einem zu denken geben. Erst recht, wenn man erfährt, dass Dr. Denker auch Patienten hat, die quer durch die Republik, in Einzelfällen sogar quer durch Europa reisen, um seine Sprechstunde zu besuchen. Wie verzweifelt muss ein Mensch sein mit seiner Krankheit, um solche Strapazen auf sich zu nehmen? Immerhin: Die Solidarität funktioniert, und zwar weltweit. Dank vieler Medienberichte spricht sich das Modell der „Praxis ohne Grenzen“ immer weiter herum, inzwischen erhält Dr. Denker Spenden und Rückmeldungen aus der ganzen Welt, etwa aus Brasilien, Thailand, Spanien, Portugal, Polen, der Ukraine, Kanada, USA und Dänemark.

Ein Vermächtnis, das sich selbst entzündet

Dass man in Dr. Denker einen wahren Humanisten nach alter christlicher Schule findet, dürfte dieser Text deutlich gemacht haben. Für seine Arbeit wurde er auch bereits mehrfach ausgezeichnet – was ihn natürlich freut, aber letztlich auch bescheiden zurücktreten lässt, indem er dabei stets betont, dass das alles ohne die Hilfe der ebenso engagierten Kollegen und nicht zuletzt seiner Frau, die ihn als Sprechstundenhilfe tatkräftig unterstützt, niemals möglich gewesen wäre.

Nun ist er aber selber bereits 79 Jahre alt, obschon für sein Alter wahnsinnig agil und umtriebig. Wie hält er sich selber jung und fit? „Dabei hilft mir zum einen die Musik“, sagt der begeisterte Sänger, der bis heute regelmäßig mit seinem Chor auf der Bühne steht. „Und zum anderen der Umstand, dass ich in meiner Zeit als Familienarzt viele Kinder betreut habe. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, woran es liegt, aber es stimmt tatsächlich: Kinderärzte leben deutlich länger als andere Kollegen“, lacht er. „Vielleicht liegt es daran, dass wir dabei immer die Zukunft unserer Gesellschaft vor Augen haben. Und wenn ich für das Gelingen dieser Zukunft meinen kleinen Teil mit der 'Praxis ohne Grenzen' beigetragen habe, dann bin ich zufrieden.“ Spricht's – und ruft den nächsten Patienten auf, niemals wissend, welches persönliche Drama ihn nun wieder erwartet.

10 Thesen der „Praxen ohne Grenzen“

  1. Schafft durch einen Solidarbeitrag aller Bürger und aller Krankenkassen und durch Steuern (finanzielle Unterstützung aus dem Steuer-Transfersystem, einer Finanztransaktionssteuer) eine „Grundversicherung für Alle“ mit einkommensabhängigen Beiträgen und der Möglichkeit der privaten Zusatzversicherung.
  2. Mindert den Zins auf ausstehende Krankenkassenbeiträge! (Ist im Juni 2013 unzureichend erfolgt)
  3. Gebt bei Beitragsschulden an mittellose Kranke ein in kleinen, angepassten Beiträgen rückzahlbares „Patientendarlehen“ als Entschuldungs- oder Überbrückungshilfe, gespeist aus einem „Altschuldentilgungsfond“ oder „Solidaritäts- bzw. Rettungsfond“. (Ein – nicht ausreichendes – Gesetz zur Beitragsentschuldung hat im August 2013 den Bundestag und Bundesrat passiert).
  4. Schafft „Clearingstellen“, die „anonyme Krankenscheine“ für nichtversicherte Kranke ausstellen.
  5. Schafft die „Kassengebühr“ (fälschlich „Praxisgebühr“) ab! (Ist ab 1. Januar 2013 geschehen)
  6. Senkt oder beseitigt die Mehrwertsteuer auf Medikamente, Heil- und Hilfsmittel (19%!) auf einen EU-einheitlichen, niedrigeren Satz!
  7. Befreit Mittellose von Zuzahlungen für Medikamente, Heil-und Hilfsmittel.
  8. Schafft eine kostenfreie Krankenversicherung für alle in der Bundesrepublik lebenden Kinder!
  9. Gebt auch den über 55-jährigen Nichtversicherten die Möglichkeit, sich wieder gegen Krankheit zu versichern (Notfalltarif).
  10. Schafft für den Notfall einen Krankenhauszugang für nicht versicherte bzw. nicht versicherbare Kranke!

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