Praxis ohne Grenzen

Mai 2017 / Seite 3 von 3

22 Tonnen Medizin

Dabei sah das alles zu Beginn seiner Arbeit mit der „Praxis ohne Grenzen“ noch ganz anders aus. Alles schien durch ein vermeintlich kleines Problem finanziell zu explodieren und der Gedanke der „Praxis ohne Grenzen“ schien damit kaum umsetzbar: Die Rede ist von Medikamenten. Denn neben Geld- und Sachspenden, mit denen die „Praxis ohne Grenzen“ peu à peu zu einer vollwertigen Allgemeinpraxis mit allen notwendigen medizinischen Geräten ausgestattet werden konnte, setzte die Idee auch auf den unbestreitbar vorhandenen Überschuss an nicht verwendeten Medikamenten, die die Praxis einsammeln und an ihre Patienten weitergeben wollte. Nur lässt das deutsche Arzneimittelgesetz genau das nicht zu – angeblich zum Wohle des Menschen, tatsächlich aber eher zum Wohle der Pharmalobby.

Dr. Denker erzählt: „Jede Woche rufen mich Menschen an und sagen Dinge wie 'Mein Vater ist verstorben und hat schränkeweise Medikamente hinterlassen. Soll ich die Ihnen vorbeibringen?' Und ich kann immer nur antworten: 'Nein, das dürfen wir nicht annehmen. Bitte schmeißen Sie alles in den Müll.' Jährlich werden allein im Kreis Bad Segeberg auf diese Weise mehr als 22 Tonnen von nicht abgelaufenen Medikamenten entsorgt, die Bedürftige noch sehr gut hätten gebrauchen können.“ Dass dadurch all diese Substanzen in den natürlichen Kreislauf gelangen und damit wiederum die Gefahr der Entstehung neuer multiresistenter Keime massiv erhöht wird, ist ein zusätzlicher Skandal, der hier aber gar nicht weiter thematisiert werden soll. So wurde das Verschreiben und Ausgeben von Medikamenten zu einem festen Kostenfaktor der „Praxis ohne Grenzen“, der so ursprünglich überhaupt nicht vorgesehen war. Mehrere Tausend Euro Spendengelder pro Monat nimmt dieser Bereich nun in Anspruch – Geld, das an anderer Stelle dringend gebraucht würde. Grob gesagt ließe sich, wenn man diesen Posten reduzieren oder gar eliminieren könnte, alle drei, vier Monate eine weitere Nierentransplantation auf Kosten der „Praxis ohne Grenzen“ bezahlen.

Der Bedarf ist hoch

Apropos „brauchen“: Wie hoch der Bedarf an kostenloser ärztlicher Behandlung ist, sieht man schon an entsprechenden Nachahmern, denn – und das ist die schöne Nachricht – die Idee von Dr. Denker hat insbesondere in Norddeutschland Schule gemacht. Vor sieben Jahren erst begann Dr. Denker mit seiner Arbeit, damals nur „bewaffnet“ mit einem Arztkoffer und einem starken humanistischen und auch christlichen Antrieb (wobei er sagt, dass sie das „Christliche“ nicht an die große Glocke hängen, weil es möglicherweise Bedürftige anderer Glaubensrichtungen abschrecken könnte, Anmerkung d. Verf.). Inzwischen existieren allein in Norddeutschland neun Praxen ohne Grenzen, in Hamburg und Mainz gibt es mittlerweile sogar regelrechte Ambulanzen mit breit aufgestellten Ärzteteams, die sich um mittellose Kranke rührig kümmern.

Die „Praxis ohne Grenzen“ in Bad Segeberg: ein unscheinbarer Ort mit großer Bedeutung.

Bei jeder Neueröffnung steht Dr. Denker mit Rat und Tat zur Seite. Auf der Homepage der „Praxis ohne Grenzen“ gibt er erste Tipps, was alles zu berücksichtigen ist, sollte man als Arzt das Bedürfnis verspüren, eine eigene „Praxis ohne Grenzen“ zu eröffnen. Und all das scheint erst der Anfang zu sein – in einem Land, in dem es angeblich medizinische Vollversorgung gibt. „Traurig genug, dass es diesen Bedarf gibt“, so Denker. „Aber schön, dass sich meine Idee so weiter trägt.“

Das alles sollte einem zu denken geben. Erst recht, wenn man erfährt, dass Dr. Denker auch Patienten hat, die quer durch die Republik, in Einzelfällen sogar quer durch Europa reisen, um seine Sprechstunde zu besuchen. Wie verzweifelt muss ein Mensch sein mit seiner Krankheit, um solche Strapazen auf sich zu nehmen? Immerhin: Die Solidarität funktioniert, und zwar weltweit. Dank vieler Medienberichte spricht sich das Modell der „Praxis ohne Grenzen“ immer weiter herum, inzwischen erhält Dr. Denker Spenden und Rückmeldungen aus der ganzen Welt, etwa aus Brasilien, Thailand, Spanien, Portugal, Polen, der Ukraine, Kanada, USA und Dänemark.

Ein Vermächtnis, das sich selbst entzündet

Dass man in Dr. Denker einen wahren Humanisten nach alter christlicher Schule findet, dürfte dieser Text deutlich gemacht haben. Für seine Arbeit wurde er auch bereits mehrfach ausgezeichnet – was ihn natürlich freut, aber letztlich auch bescheiden zurücktreten lässt, indem er dabei stets betont, dass das alles ohne die Hilfe der ebenso engagierten Kollegen und nicht zuletzt seiner Frau, die ihn als Sprechstundenhilfe tatkräftig unterstützt, niemals möglich gewesen wäre.

Nun ist er aber selber bereits 79 Jahre alt, obschon für sein Alter wahnsinnig agil und umtriebig. Wie hält er sich selber jung und fit? „Dabei hilft mir zum einen die Musik“, sagt der begeisterte Sänger, der bis heute regelmäßig mit seinem Chor auf der Bühne steht. „Und zum anderen der Umstand, dass ich in meiner Zeit als Familienarzt viele Kinder betreut habe. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, woran es liegt, aber es stimmt tatsächlich: Kinderärzte leben deutlich länger als andere Kollegen“, lacht er. „Vielleicht liegt es daran, dass wir dabei immer die Zukunft unserer Gesellschaft vor Augen haben. Und wenn ich für das Gelingen dieser Zukunft meinen kleinen Teil mit der 'Praxis ohne Grenzen' beigetragen habe, dann bin ich zufrieden.“ Spricht's – und ruft den nächsten Patienten auf, niemals wissend, welches persönliche Drama ihn nun wieder erwartet.

10 Thesen der „Praxen ohne Grenzen“

  1. Schafft durch einen Solidarbeitrag aller Bürger und aller Krankenkassen und durch Steuern (finanzielle Unterstützung aus dem Steuer-Transfersystem, einer Finanztransaktionssteuer) eine „Grundversicherung für Alle“ mit einkommensabhängigen Beiträgen und der Möglichkeit der privaten Zusatzversicherung.
  2. Mindert den Zins auf ausstehende Krankenkassenbeiträge! (Ist im Juni 2013 unzureichend erfolgt)
  3. Gebt bei Beitragsschulden an mittellose Kranke ein in kleinen, angepassten Beiträgen rückzahlbares „Patientendarlehen“ als Entschuldungs- oder Überbrückungshilfe, gespeist aus einem „Altschuldentilgungsfond“ oder „Solidaritäts- bzw. Rettungsfond“. (Ein – nicht ausreichendes – Gesetz zur Beitragsentschuldung hat im August 2013 den Bundestag und Bundesrat passiert).
  4. Schafft „Clearingstellen“, die „anonyme Krankenscheine“ für nichtversicherte Kranke ausstellen.
  5. Schafft die „Kassengebühr“ (fälschlich „Praxisgebühr“) ab! (Ist ab 1. Januar 2013 geschehen)
  6. Senkt oder beseitigt die Mehrwertsteuer auf Medikamente, Heil- und Hilfsmittel (19%!) auf einen EU-einheitlichen, niedrigeren Satz!
  7. Befreit Mittellose von Zuzahlungen für Medikamente, Heil-und Hilfsmittel.
  8. Schafft eine kostenfreie Krankenversicherung für alle in der Bundesrepublik lebenden Kinder!
  9. Gebt auch den über 55-jährigen Nichtversicherten die Möglichkeit, sich wieder gegen Krankheit zu versichern (Notfalltarif).
  10. Schafft für den Notfall einen Krankenhauszugang für nicht versicherte bzw. nicht versicherbare Kranke!

Zur Person

Kontakt und Spenden

Praxis ohne Grenzen – Region Bad Segeberg
Kirchplatz 2
23795 Bad Segeberg
Tel.: 04551 – 9 55 027 (während der Sprechzeiten)
Mail: praxisohnegrenzen-SE@t-online.de

Spenden:

IBAN: DE61 2129 0016 0056 8000 00
BIC: GENODEF1NMS

Weitere Praxen ohne Grenzen gibt es in Flensburg, Husum, Rendsburg, Preetz, Neustadt-Rettin, Pinneberg, Stockelsdorf, Hamburg und Mainz, alle Kontakte sind zu finden unter www.praxisohnegrenzen.de

Teilen Sie dieses Interview:

Seite 3 von 3