Neneh Cherry
„Wir Menschen sind alle Kontrollfreaks.“
Zur Person
Neneh Cherry (geboren am 10. März 1964 in Stockholm) begann ihre Karriere als Sängerin und Songwriterin in den 80er-Jahren. Sie trat mit verschieden Londoner Punk- und Post-Punk-Bands auf, bevor ihr 1989 mit ihrem Solodebüt „Raw Like Sushi“ ein internationaler Hit gelang: Singles wie „Buffalo Stance“ oder „Manchild“ machten sie zum „Poster Girl“ einer neuen, stark vom HipHop geprägten Popmusik. In den 90er-Jahren erschienen zwei weitere Alben, das mit Youssou N’Dour gesungene Lied „Seven Seconds“ wurde zu einem Welthit. Danach fokussierte sie sich einige Jahre auf ihre Familie, seit 2012 veröffentlicht sie wieder neue Musik: zunächst zusammen mit dem skandinavischen Free-Jazz-Band The Thing , danach erschienen mit „Blank Project“ (2014) und „Broken Politics“ (2018) zwei Soloplatten mit einer ambitionierten Mischung aus Elektro, Future-Soul und Dubstep und politischen Texten. Ihr einflussreiches erstes Album „Raw Like Sushi“ erscheint nun zum 30. Geburtstag in einer Neuauflage mit vielen Bonus-Tracks.
05. Februar 2020, London. Neneh Cherry trinkt noch hastig einen Schluck Wasser, bevor sie ein freundliches „Okay, jetzt, hallo!“ durch die Telefonleitung schickt. Ich erreiche sie an einem der wenigen sonnigen Februarnachmittage in ihrem Haus in Westlondon. Sie spricht mit einer Stimme, deren Wärme auch durchs Telefon zu spüren ist. Gerade hat sie noch schnell ein spätes Frühstück gegessen: Porridge mit Apfel und Leinsamen – „diese Art von Essen, die man als Kind hasst“. Was wie ein normaler Tag im Leben der 55-jährigen Musikerin klingt, ist tatsächlich ein sehr trauriger: Sie und ihr Mann, Produzent Cameron McVey, kommen gerade von einer Beerdigung; ein Nachbar war verstorben.
Ich erwische Sie an einem traurigen Tag. Was für Gedanken gehen Ihnen heute durch den Kopf?
Ach, wissen Sie, das Leben ist seltsam. Je länger ich lebe, desto bewusster wird mir das. Ich tue mein Bestes, wirklich präsent zu sein in meinem eigenen Leben, in seinen vielen kleinen Momenten. Aber das ist extrem anstrengend, das kann ich Ihnen sagen. (lacht)
Würden Sie sagen, dass dieses Bemühen heute anstrengender ist als früher?
Kann sein, ja. Alles ist so schnell, dass wir es nur mit Mühe und Not schaffen, irgendwie hinterherzukommen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir zu sehr darauf konditioniert sind, ständig weiter zu denken, zu planen und zu wollen. Mir ist das auch heute bei der Beerdigung aufgefallen: Ich saß in der Kirche beim Gottesdienst, und ein kleiner Chor sang „Amazing Grace“. Ein wunderschöner, ergreifender Moment. Also habe ich versucht, alle Gedanken beiseitezuschieben und nur da zu sein: in diesem Raum, dem Gesang lauschend. Sie glauben gar nicht, wie schwierig das war! Das Lied ist nur vier oder fünf Minuten lang, trotzdem sind mir meine Gedanken wieder davongelaufen. Ich musste sie immer wieder einfangen und zurückzerren, als wären es verrückt gewordene Hunde.