Martin Walser
„Unsere wichtigste Fähigkeit ist es, etwas schön finden zu können.“
Zur Person
Martin Walser (geboren am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee) ist Sohn eines Kohlenhändlers und Bahnhofgastronoms, der schon 1938 verstarb. Die Mutter hatte auch dank ihrer frühen NSDAP-Mitgliedschaft (1932) den Betrieb vor dem Konkurs bewahren können. Nach dem Germanistik-Studium arbeitete Walser als Hörfunkredakteur und lernte über die „Gruppe 47“ Literaten wie Günter Grass und Heinrich Böll sowie Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki kennen. „Ehen in Philippsburg“ markierte 1957 seinen Durchbruch. Er besuchte den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 1960er-Jahren. Das Thema beschäftigte ihn fortan, es gipfelte 1998 in seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in der er vor der Instrumentalisierung der Shoah warnte. Viele verstanden das so, dass er den Juden selbst die Instrumentalisierung vorwerfe. Walser ist seit 1950 mit Käthe Neuner-Jehle verheiratet und Vater von vier Töchtern, Spiegel-Erbe Jakob Augstein hat sich 2005 als sein Sohn offenbart. Er lebt in Nußdorf am Bodensee.
25.11.2014, München. Für den Abend ist geplant, dass Martin Walser im Literaturhaus aus seinen Tagebüchern liest. Zum Interview findet er sich überpünktlich im Konferenzraum ein. Der Schriftsteller, so imposant er auch wirkt, macht es einem leicht, Zugang zu ihm zu bekommen. Er stellt sich als lebendiger Gesprächspartner heraus, oft verschmitzt, sogar lausbübisch, die Ernsthaftigkeit verlässt ihn trotzdem nie. Dann und wann entstehen Gesprächspausen, bei denen man denkt, er mag die Frage gerade nicht beantworten. Doch schnell versteht man: Dieser Mann geht auch beim Sprechen sehr bewusst mit Sprache um. Nichts ist unüberlegt.
Herr Walser, Tagebücher sind ihrem Wesen nach erst einmal nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Dennoch geben gerade Schriftsteller, so auch Sie, Einblick in ihre intimsten Gedanken und publizieren, was sie einst im stillen Kämmerlein notiert haben. Man sollte meinen, dass man sich dadurch noch einmal verwundbarer macht.
Martin Walser: Im Grunde ist es wenig überraschend: Die Leute, die einen mögen, finden die Tagebücher gut, die Leute, die einen nicht mögen, finden sie nicht gut. Und wer mir nicht wohlgesonnen ist, fahndet in den Tagebüchern natürlich nach Sätzen, die er gegen mich verwenden kann. Ich bin grundsätzlich dagegen, wenn einer auf mir herumtrampeln will, weil er glaubt, dass es seinen Füßen gut tut. Aber damit muss ich leben. Ich kann nicht, wie es etwa in der Werbung inszeniert wird, ein möglichst optimales Bild von mir in den Tagebüchern entwerfen und pflegen. Nur damit später mal keiner sagt: „Jetzt hab ich ihn!“ Ich muss schon das nehmen, was da ist, und das ist oft quälend, das ist unangenehm. Ich lasse da auch Sachen stehen, über die ich schon von Vornherein weiß, dass sich meine Gegner darüber furchtbar lustig machen werden. Ich biete ihnen meine Empfindlichkeiten an.
Nun zeigt kaum jemand anderen gerne seine Achillesferse. Was sagt es über Sie aus, wenn Sie es trotzdem tun?
Dass es mir zuallererst darauf ankommt, dass, wie ich es immer ausdrücke, die Sätze sitzen müssen. Das heißt, sie müssen gut sein, sie müssen stimmen. Ich unterwerfe meine Tagebücher einer rein literarischen Prüfung. Was letztlich drin steht, also der Inhalt, ist sekundär. Wenn ich einen Satz brauchen kann, dann verwende ich ihn. Es spielt keine Rolle, ob ich mir dadurch die Blöße gebe oder nicht. Und letztlich, wenn ich es geschrieben habe, ist es immer noch schöner als es in Wirklichkeit war. Darum geht es: Schreiben heißt, etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist. Das ist meine Aufgabe als Schriftsteller.