Marie Nehles

Marie Nehles

„Das Leben in Nepal fühlt sich an wie Lehmtöne.“

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  • Frederike Wetzels
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Zur Person

05.06.2016, Köln. Den Balkon von Marie Nehles erkennt man auf den ersten Blick. Im Prinzip nur einer von vielen im Mietkomplex, wehen auf ihm Dutzende nepalesischer Gebetsfahnen. In den Pflanztöpfen blühen formvollendete Tomaten. Neben den geöffneten Dachfenstern des Hauses gegenüber kraxeln dackelgroße schwarze Krähen auf den Ziegeln. Eine schwüle, heiße Luft liegt über dem Viertel, in dem einige Details die Regisseurin an ihre Zeit zwischen Kathmandu und Pokhara erinnern.

Frau Nehles, auf dem Hinweg am Bahnhof Deutz ließ sich ein Streit zwischen einem Obdachlosen und einem Filialleiter von McDonald’s beobachten. Schnorrer baten alle paar Meter um ein paar Cent. In den Lautsprechern warnte man vor Taschendieben. Welche Elemente aus dieser Kulisse treffen auch auf den Alltag in Nepal zu?

Am ehesten das Schnorren. Einige Bettler sitzen zurückhaltend am Tempel oder am Straßenrand und warten darauf, dass man zu ihnen kommt. Manche Familien allerdings schicken sehr offensiv ihre Kinder vor, was ich sehr irritierend fand. Kürzlich hatte ich hier in Köln-Kalk auf dem Heimweg ein unheimliches Déjà-vu. Da wankte ein Mann auf der Straße, der genauso aussah wie der Obdachlose, den es auf unserer Reise am schlimmsten erwischt hatte. Verfilzter Bart, offenes Hemd, um ihn herum schwirrende Fliegen. Deutlich nicht mehr der, der er einmal war, was auch immer für ein Mensch er mal gewesen sein mag. Durch Schicksalsschläge, Krankheit, Armut gezeichnet. Für eine Millisekunde dachte ich, ich hätte Nepal nie verlassen.

Sie haben keinen Dokumentarfilm über Armut gedreht, sondern über Lepra. Wieso ist in Nepal im 21. Jahrhundert eine Krankheit noch so verbreitet, die man im Prinzip ohne weiteres heilen kann?

Zum einen ist Lepra eine Armutskrankheit, weswegen „Losing Touch“ indirekt durchaus ein Film über Armut ist. Das Problem hat in Nepal unterste Priorität. Man kümmert sich um andere Dinge. Alles ist wichtiger. Es betrifft ohnehin meistens die Armen. Sobald jemand Lepra hat, gehört er augenblicklich zur untersten Kaste. Er ist ein Aussätziger. Lepra heißt ja auch wörtlich übersetzt: Aussatz. Dafür, die Erkrankten aus der Gemeinschaft auszustoßen, gibt es allerdings auch religiöse Gründe. Der Hinduismus sagt: Lepra ist eine Strafe für die Sünden im vorherigen Leben. Deswegen schließt man die Kranken aus, auch aus der eigenen Familie.

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