Marc Almond

Marc Almond

„Hoffnungslosigkeit ist die neue Normalität.“

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  • Etienne Gilfillan
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Zur Person

27. April 2022, London. Es ist 9 Uhr morgens, eigentlich keine Interviewzeit für Popstars. Marc Almond dagegen ist deutlich vor der verabredeten Zeit im Office seiner Plattenfirma in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Paddington. 65 Jahre alt wird der Sänger von Soft Cell und Solokünstler in diesem Sommer. Auch dank einiger Eingriffe sieht man es ihm nicht an. Im Gespräch geht es um die früheren Vorstellungen einer schönen Zukunft im Kontrast zur oftmals komplizierten und traurigen Gegenwart. Melancholisch wird Almond beim Thema Russland: Der Sänger hat einige Jahre in Moskau gelebt und dort viele Freunde kennengelernt. Der Krieg entsetzt ihn. Putin überfalle einen Staat und nehme vielen Russen ihr Land weg. Zwischen den düsteren Gedanken blitzt immer wieder bitterer Humor auf.

Marc Almond, was hatten Sie als Kind vor Augen, wenn Sie an die Zukunft gedacht haben?

Ich bin 1957 geboren, war ein Kind in den 60er-Jahren, ein Teenager in den 70er-Jahren. Natürlich wurden wir alle damals von Science-Fiction-Filmen und -Serien beeinflusst. Für mich war die Vorstellung von der Zukunft als Kind und Jugendlicher absolut großartig. Alles schien dort besser zu sein als in der Gegenwart, die ich erlebte. Die war nämlich nicht sonderlich hoffnungsvoll im Norden Englands, wo ich aufgewachsen bin. In der Zukunft erwartete ich gesunde Menschen, die immerzu lachen würden. Diese Menschen würden sich androgyn kleiden, die Geschlechter würden viel weniger zu erkennen sein. Alles würde elektrisch betrieben, keiner würde mehr Öl benötigen. Den Transport würden Hyperloops, Monorail-Bahnen und fliegende Autos übernehmen, von stinkenden Blechlawinen auf vollgestopften Straßen keine Spur mehr.

Eine Utopie.

So habe ich das gesehen, ja. Als ich dann älter wurde und bei den Science-Fiction-Filmen aus den 70er-Jahren genauer hingeschaut habe, erkannte ich jedoch die dunkle Seite dieser Zukunftsvision. Der neue Soft-Cell-Song „Happy Happy“ beschreibt diese Düsternis, die hinter der oberflächlich schillernden Fassade steckt. Sie dürfen den Song gerne als zynisch bezeichnen, als junger Mensch besaß ich diesen Zynismus jedoch noch nicht. Meine Zukunft und die der gesamten Menschheit malte ich mir rosarot aus. Na ja, es ist dann ein wenig anders gekommen. Wobei, und das ist interessant, die Werbung uns weiterhin suggeriert, diese rosarote Welt könnte existieren, wenn wir uns nur die richtigen Produkte kaufen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen würden.

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