Klaus Willbrand
„Für eine gute Nabelschau braucht es Jahrhundertmenschen.“
Zur Person
Klaus Willbrand, geboren 1941 in Essen, absolvierte seine Lehre zum Buchhändler Anfang der Sechzigerjahre in der legendären Kölner Buchhandlung Witsch. 1962 verlegte er Rolf Dieter Brinkmanns lyrisches Debüt „Ihr nennt es Sprache“ in einem eigens dafür gegründeten kleinen Verlag. Einige Druckfehler störten den radikalen literarischen Innovator Brinkmann, in dessen Namen die Stadt Köln seit 1990 ein Stipendium vergibt, so sehr, dass er die Auslieferung der heute wertvollen 500 Exemplare verhinderte. Erst vier Jahre nach seinem frühen Tod entließ seine Witwe die Bücher in den Handel. Seit rund zwanzig Jahren betreibt Klaus Willbrand sein Antiquariat in der Nähe der Universität, zuletzt mit stark rückläufigem Kundenzulauf. Zwei Jahre lang versuchte seine gute Freundin Daria Razumovych, Verlags- und Social-Media-Profi, ihn davon zu überzeugen, vor der Smartphone-Kamera über Literatur zu sprechen. Am Karfreitag des Jahres 2024 legten sie los. Seine Expertise und die professionelle Social-Media-Kuration lassen die Kanäle auf Instagram, YouTube und TikTok in wenigen Monaten explodieren. Der Suhrkamp Verlag hat in Kooperation mit ihm extra eine Webseite für seine Empfehlungen eingerichtet.
10. Juli 2024, Köln. Schnucklige Cafés und kleine Geschäfte in denkmalgeschützten Häusern, vielfältig bepflanzte Grünflächen zwischen den Parkbuchten. Das Viertel, in dem das Antiquariat im Weyertal von Klaus Willbrand beheimatet ist, liegt wie ein Ruhepol in der trubeligen Stadt. Ein kultivierter Kiez für Flanierende aller Altersklassen. Wer zum ersten Mal herkommt, könnte aus Versehen in das Nachbargeschäft stolpern, das seinen Namen nicht auf großem Schilde trägt. „Der Star ist nebenan“, lacht der Kollege auf seiner Leiter zwischen den Büchern. In wenigen Monaten haben sich die Videos, in denen der 1941 geborene Willbrand über Literatur, Philosophie und Geistesgeschichte spricht, zu einem riesigen Social-Media-Phänomen entwickelt. Die Idee stammt von Daria Razumovych. Sie ist diejenige, die tagtäglich die Kanäle kuratiert – und deswegen auf dringenden Wunsch des Buchhändlers auch beim Gespräch dabei.
Klaus Willbrand, innerhalb weniger Wochen sind Sie zu einer kleinen Internet-Berühmtheit mit knapp 100.000 Followern allein auf Instagram geworden. Worin sehen Sie den schnellen Erfolg Ihrer Kanäle begründet, gerade in den sozialen Medien, denen man üblicherweise geistlose Oberflächlichkeit nachsagt?
Wir agieren hier absichtlich nicht so perfekt, wie es in etablierten Medien der Fall ist, und es liegt mir fern, als Buchkritiker oder Literaturwissenschaftler aufzutreten. Ich spreche aus der Warte eines überaus erfahrenen Antiquars, der in seinem Leben eine Menge gelesen hat und mit sehr vielen Leuten Kontakt hatte. In den Videos entsteht zudem ein interessanter Spannungsbogen durch den Altersunterschied von fünfzig Jahren zwischen Daria, die all das initiiert hat, und mir. Vor der Kamera sitzt ein alter Knacker, die Fragen kommen von einer jungen Stimme aus dem Hintergrund. Einen weiteren Aspekt sehe ich darin, dass wir derzeit in einer Gesellschaft leben, für die Kultur eine eher untergeordnete Rolle spielt. Die Leute, die wir ansprechen und die so begeistert auf uns reagieren, sind im Grunde alleingelassen worden. Sie haben weder vom Elternhaus in dieser Hinsicht etwas mitbekommen noch von der Schule, die ihnen die Literatur eher verdorben hat. Andere hingegen sind große Literaturliebhaber und freuen sich über Inhalte, die etwas in die Tiefe gehen – sofern die Kanäle das zulassen.
Wieso gelingt es Ihren Kanälen, den bislang wenig befriedigten Hunger nach Literatur und Bildung dieser Leute zu stillen?
Weil wir ihnen gute Literatur auf einfachste Art und Weise nahebringen. Keine aktuelle, denn ich bin schließlich Antiquar und spreche daher über Bücher, die vor vierzig, fünfzig oder eben auch zweihundert Jahren erschienen sind. Wir machen’s kurz und knapp, passend zur Aufmerksamkeitsspanne der jeweiligen Formate, also durchaus mit Unterschieden zwischen YouTube, TikTok und Instagram. Viele merken dann, dass Literatur sie doch interessieren könnte. Obwohl sie womöglich nie zuvor eine Buchhandlung oder ein Antiquariat betreten haben, fühlen sie sich virtuell bei uns zu Hause.