Henry Marsh

Henry Marsh

„Die unsterbliche Seele ist höchst unwahrscheinlich.“

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  • Simon Clark, Pako Mera, Geraint Lewis
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Zur Person

London, 29.05.2015. Nichts in dieser Wohnküche im Süden der Stadt deutet darauf hin, dass der Mann, der hier wohnt, sich durch 8000 lebendige Menschenhirne gewühlt hat. Die Sonne scheint durch das volle Grün des Gartens auf einen Holztisch, darauf wohnliche Unordnung: benutztes Geschirr, ein handgeschriebener Brief, daneben ein Dutzend Honiggläser in verschiedenen Größen. Professor Henry Marsh, 65, ist nicht nur ein führender Neurochirurg in Großbritannien, sondern auch Imker. Den Tisch hat er selbst gebaut, genauso wie die gläserne Kuppel im Dach über der Küche. Im Flur liegen Latten für Fenster, die er demnächst schreinern möchte. Marsh, hohe Stirn, wache Augen hinter einer runden Hornbrille, sieht sich selbst haupt- und nebenberuflich als Handwerker. Er erzählt von Behandlungsfehlern, Fundstücken im Gehirn und der Musik, die sich am besten zum Zunähen der Kopfhaut eignet.

Herr Marsh, wenn Sie einen Schädel öffnen – was sehen Sie da?

Henry Marsh: Meistens sehe ich das Gehirn durch ein Operationsmikroskop, ein Gerät, das ich aufrichtig liebe. Ich bin so gewohnt, es zu benutzen, dass es sich anfühlt wie ein Teil von mir. Ich habe nie Computer gespielt, aber das Operationsmikroskop erschafft so etwas wie eine virtuelle Realität. Man hat das Gefühl, im Gehirn zu sein, durch Gänge ans Ziel zu kriechen. In seinem Inneren ist das Gehirn nicht besonders interessant, es sieht aus wie weißes Gelee. Aber wenn man zum Beispiel unter dem Gehirn ist, dann blickt man auf schimmernde, tiefblaue Hirnvenen, ein Geflecht, das wirkt wie das Dach einer Kathedrale.

Ist es ein erhabener Augenblick, wenn man in das Organ schaut, in dem unser Bewusstsein entsteht?

Man gewöhnt sich daran. Wenn man ein Gehirn anschaut, lernt man nichts darüber, was wichtig ist im Leben. Aber als Arzt, der mit Gehirnproblemen zu tun hat, erkennt man: Was wir denken und fühlen, ist Elektrochemie.

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