Gertrud Höhler

Gertrud Höhler

„Wir haben eine Brot-und-Spiele-Kultur.“

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Zur Person

18.11.2014, Berlin. Gertrud Höhler umgibt die Aura der Grande Dame, sie kennt sich aus in den oberen Etagen. Wir treffen uns im Hotel Adlon zu Tee und Gebäck. Im Gespräch ist sie sachlich, pointiert kritisch und emotional präzise – Höhler beherrscht die gesamte Klaviatur des sprachlichen Ausdrucks. Als Beraterin von Wirtschaft und Politik spricht sie über die Machenschaften der Macht, die Zukunft von Europa, den Umgang mit Putin und die Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Ihr humanistisch geprägtes Weltbild basiert auf klassischen Tugenden, für die sie engagiert eintritt. Selbst nicht unumstritten, ist und bleibt sie eine Zeitzeugin mit Weitblick.

Frau Prof. Dr. Höhler, was beschäftigt Sie momentan am meisten?

Gertrud Höhler: Es ist vor allem die politische Weltlage, die mich beschäftigt. Einerseits das, was wir alle wahrnehmen: Wie läuft das mit der Ukraine und welche Bedeutung hat der plötzliche Radikalisierungskurs der Kanzlerin gegenüber Putin? Dann die Themen, die etwas zurückgedrängt werden: Was geschieht eigentlich innenpolitisch in Deutschland, wie geht das weiter mit der Einebnung der Grenzen zwischen den Parteiangeboten für die Bürger? Man hat ja gar nicht mehr das Gefühl, da gibt es eine Opposition und die andere Partei könnte es mal wieder werden. Es gibt unglaubliche Umwälzungen, die nicht nur international stattfinden, sondern die sich in den Zuständen der einzelnen zivilisierten Gesellschaften spiegeln, die sich eigentlich als Innovatoren auf dem Erdball glaubten seit dem arabischen Frühling, von dem so wenig übrig geblieben ist. Wir haben also Ernüchterungserlebnisse in diesem Transfer von Demokratie, den wir uns als so verlockend für alle Länder der Welt vorgestellt haben. Aber wir können diesen Transfer überhaupt gar nicht so vollziehen, weil Jahrhunderte von unterschiedlichen Erfahrungen der Kulturen da sind. Es ist eine Zeit, die wir, wenn ich mal auf mein Leben schaue, in dieser Turbulenz noch nicht erlebt haben.

Sie sind Zeitzeugin der bundesdeutschen Wirtschafts- und Politikgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg. Wie sehen Sie die „Generation Merkel“ beziehungsweise die „Generation Y“?

Zunächst einmal haben wir ein als fahrlässig zu beschreibendes Gesamtverhalten dieser Generation. Wenn man aber näher hinschaut, dann sieht man: Diese jungen Menschen haben ein geringeres Zutrauen zu den Möglichkeiten, für sich selbst ein erfolgreiches Leben zu gestalten. Junge Männer sprechen oft nicht darüber, um nicht als Waschlappen dazustehen. Die jungen Frauen sind schon offener, sind dann aber auch sehr emotional. Da gibt es Quotendiskussionen, da gibt es Wutdiskussionen und die Verschiebung von Verantwortung für das eigene Leben auf die, die einen angeblich behindern. Die neue Generation überrascht uns mit etwas, das auch die heute Vierzigjährigen meiner Beobachtung nach schon begonnen haben: Eine unglaublich kühle Betrachtung von Themen, bei denen meine Generation noch sehr alarmiert reagiert hat. Das gilt für die Weltpolitik, das gilt für die Innenpolitik, das gilt für die Rechtsbrüche in Europa und für die ganze Entwicklung der EU. Sie haben eine unterkühlte Betrachtung entwickelt, von der der Psychologe sagen würde, die entsteht nur, wenn man zigmal enttäuscht wurde. Und zwar schon als Kind. Wir ziehen eine kühle Generation heran, die ihren durch Mangel an liebevoller Zuwendung entstandenen Schmerz bekämpft, indem sie sich von allem abwendet, wo bei uns noch das Herz schneller schlägt.

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