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„Hunger ist ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit.“

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13. April 2018, Köln. Das Hauptquartier von FIAN Deutschland muss demnächst umziehen, doch die fiebrige Aufbruchstimmung, die in der Luft liegt, hat nicht damit zu tun. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich seit 30 Jahren „für das Menschenrecht auf Nahrung“ ein – bei internationalen Gremien und vor Ort bei den Betroffenen. Deutschlandgeschäftsführer Philipp Mimkes und Aktivist Roman Herre sprechen über ein Aufgabenfeld, welches sich durch die Globalisierung zusehends wandelt, ohne seine ehrgeizige Zielsetzung aus den Augen zu verlieren.

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Herr Mimkes, Herr Herre, Brot für die Welt und Misereor sind bekannte Hilfsorganisationen, die sich gegen den Welthunger engagieren – FIAN kennt man im Vergleich dazu nicht so gut.

Philipp Mimkes: Brot für die Welt und Misereor sind enge Kooperationspartner von uns, daher verfolgen wir dieselben Ziele. Allerdings unterscheidet sich der Ansatz etwas: Wir sind eine Menschenrechtsorganisation, und unsere Arbeit basiert auf dem UN-Menschenrechtssystem. Das heißt, wir stellen mitunter dieselben Forderungen wie Hilfsorganisationen oder auch Umweltorganisationen, aber begründen das mit den Menschenrechten. Wenn wir uns also etwa für den Klimaschutz einsetzen, tun wir dies, weil die Erderwärmung auch zahlreiche Menschenrechte gefährdet.

Wie kann man sich die Aufgabenbereiche Ihrer Organisation vorstellen?

Mimkes: Da wären zunächst einmal unsere konkreten Fälle. Hier begleiten unsere Referenten und Referentinnen konkrete Fälle von Menschenrechtsverletzungen, von Landkonflikten, von Vertreibung, von Verletzungen sozialer Menschenrechte – meistens in Ländern des Südens wie Sambia, Uganda, Kambodscha, Paraguay oder Brasilien. Das bedeutet, dass wir bei den Betroffenen vor Ort sind, um solche Menschenrechtsverletzungen zu recherchieren und zu dokumentieren. Dass wir uns austauschen und die Geschädigten unterstützen, indem wir diese Fälle vor Gericht bringen oder versuchen, sie in das UN-Menschenrechtssystem einzuspeisen. Dabei werden wir als FIAN Deutschland vorrangig dann aktiv, wenn es vor Ort eine deutsche Beteiligung gibt. Wenn es die deutsche Entwicklungspolitik ist, die zu solchen Problemen führt, oder wenn es Aktivitäten deutscher Unternehmen sind. Oder wenn es die Resultate politischer Entwicklungen wie beispielsweise Handelsverträge sind, bei denen die Bundesregierung Mitverantwortung trägt.

Das wäre die Fallarbeit – wo setzt die Menschenrechtsarbeit an?

Mimkes: Hier engagieren wir uns vor allem für die Stärkung und Erweiterung des Menschenrechtssystems. Denn Menschenrechte sind ja nie in Stein gemeißelt, sondern müssen interpretiert und auch weiterentwickelt werden. FIAN hat ein Büro bei den Vereinten Nationen in Genf, über das wir uns hierfür einsetzen. So gibt es im Moment Bestrebungen, dort eine Erklärung zum Schutz der Rechte von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern zu verabschieden. Wir sind sehr engagiert, diesen Prozess voranzubringen. Dann gibt es im Menschenrechtsrat noch Verhandlungen zu einem Abkommen, das Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in aller Welt sanktionieren und den Rechtsschutz für die Betroffenen verbessern soll. Dabei muss immer klar sein: Für die Einhaltung der Menschenrechte sind die Staaten verantwortlich. Hierzu haben sie sich durch die Unterzeichnung der UN-Charta auch rechtlich verpflichtet.

Ist FIAN damit das, was man als Watchdog- Organisation bezeichnet?

Mimkes: Der Ansatz ist ein bisschen anders. Der Watchdog funktioniert primär über die Öffentlichkeit, über das „Naming and Shaming“, um über den drohenden Reputationsverlust eine Handlungsänderung bei Firmen zu bewirken. FIAN hat häufig ähnliche Ziele, aber eine andere Linse, nämlich den menschenrechtlichen Blickwinkel. Das heißt nicht, dass unsere Arbeit nicht häufig sehr ähnlich ist – auch wir beteiligen uns an Kampagnen oder Demonstrationen. Ein Beispiel: Momentan gibt es sehr viele Aktionen gegen Fusionen im Agrarbereich, bei denen Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Wenn die Bayer-Monsanto-Fusion tatsächlich durchgewunken wird, ist Deutschland schließlich Sitz des größten Agrarkonzerns der Welt. Das hat sicherlich umweltpolitische Implikationen, die wir auch wichtig finden, aber wir kritisieren dies aus einer Menschenrechtsperspektive: Was für Auswirkungen wird es etwa auf das Recht auf Gesundheit haben, wenn noch mehr schädliche Pestizide zum Einsatz kommen? Auch das Recht auf Nahrung wird bedroht, wenn die Vielfalt des Saatguts eingeschränkt wird. Aus diesem Grund fordern auch wir die Bundesregierung und die EU dazu auf, diesem Fusionsprozess Einhalt zu gebieten.

Die Arbeit von FIAN wendet sich grundsätzlich gegen Hunger und die Strukturen, die ihn begünstigen. In Deutschland kann man sich beides nur noch schwer aus eigener Anschauung vorstellen.

Mimkes: Richtig ist, dass das Problem des Hungers ein bisschen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist – auch global. Die meisten Leute denken bei dem Thema an die Hungerkatastrophe in Äthiopien 1985 und nehmen an, das sei im Grunde ein Problem von gestern. Das ist es leider nicht. Man kann über die Zahlen streiten, doch sie liegen auf jeden Fall bis heute hoch. Die UN sprechen aktuell von 815 Millionen chronisch Hungernden, was elf Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Wir würden sagen, dass diese Zahlen noch zu niedrig kalkuliert sind, es ist in jedem Fall aber ein signifikanter Teil der Weltbevölkerung. Bei den Hungernden trifft es vor allem die Landbevölkerung: 80 Prozent von ihnen sind Kleinbauern, Plantagenarbeiter, Indigene oder Nomaden. In den 30 Jahren seit der Gründung von FIAN gab es zwar einige Fortschritte – wie zum Beispiel in China oder Vietnam –, aber in Indien oder Subsahara-Afrika ist der Anteil kaum zurückgegangen oder sogar gestiegen. Die Notwendigkeit unserer Arbeit ist also genauso gegeben wie vor 30 Jahren.

Sind die Gründe dafür auch die gleichen wie vor 30 Jahren?

Roman Herre: Bei den Gründen ist insofern interessant, dass sie in den Medien vor allem dann auftauchen, wenn sie mit Krieg oder Naturkatastrophen zu tun haben. Dabei sind strukturelle und menschengemachte Hungerursachen, die kontinuierlich vorhanden und medial nicht so leicht aufzubereiten sind, viel dominanter. Nehmen wir zum Beispiel die Frage, ob es überhaupt genug Nahrung für alle Menschen auf der Welt gibt. Schätzungen der UN besagen, dass wir mit unserer heutigen Agrarproduktion etwa 12 Milliarden Menschen ernähren könnten. Bei einer Weltbevölkerung von aktuell 7,5 Milliarden wird klar, dass der Hunger im Grunde ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit ist. Auf der anderen Seite wird immer wieder suggeriert, dass wir den Hunger nur besiegen können, indem wir die globalen Produktionsmengen steigern. Das ist falsch.
Mimkes: Eine Zahl zur Illustration: Rund 65 Prozent aller Hungernden sind weiblich, Frauen und Männer sind aber gleich über die Erde verteilt. Das zeigt, dass Diskriminierung ein wesentlicher Grund für Hunger ist. Der Menschenrechtsrat nennt insgesamt fünf Hauptgründe: extrem ungleiche Ressourcenverteilungen, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, fehlende Unterstützung für ländliche Entwicklung, fehlende soziale Sicherheit und ungerechte Handelsstrukturen. Damit entspricht keiner der fünf Gründe dem allgemeinen Narrativ, dem leider auch die Bundesregierung folgt, nämlich dass wir einfach nur die Produktion erhöhen müssen.

„Unsere Aufgabe ist es weniger, Fortschritte zu dokumentieren, sondern den Finger in die Wunde zu legen.“ Philipp Mimkes

Sie hatten Landkonflikte in südlichen Ländern angesprochen. Können Sie hier einen typischen Fall schildern?

Herre: Sicher. Bei einem Fall, am dem ich schon länger arbeite, geht es um große Zuckerrohrplantagen in Kambodscha. Zuckerrohr hat bis 2008 dort keine Rolle gespielt. Aber dann trat – um den Zusammenhang mit uns noch einmal deutlich zu machen – eine Handelsinitiative namens „Alles außer Waffen“ in Kraft, die ermöglicht, Zucker aus Kambodscha zoll- und quotenfrei in die EU zu importieren. Das veranlasste große regionale Zuckerkonzerne, insbesondere aus Thailand, sowie nationale Eliten aus Kambodscha dazu, sich riesige Flächen für den Zuckerrohranbau zu sichern. Die lokalen Gemeinden haben deutlich gemacht: „Wir wollen euch hier nicht haben!“ Ein Jahr später ist dann der Investor mit dem Militär angerückt und hat sehr gewaltsam durchgesetzt, sich eine Großplantage von 20.000 Hektar aus dieser Gegend herauszuschneiden. Die Leute, die vorher dort gelebt haben, wurden vertrieben, ihre Felder und Hütten angezündet. Natürlich wurde auch vielfältiger Widerstand geleistet, um Rodungen und Zerstörung der Reisfelder zu stoppen. Es wurde eine lokale Straße besetzt, nachdem ein Gemeindemitglied, das sich gegen die Landnahme ausgesprochen hatte, ins Gefängnis geworfen wurde. Weil die Deutsche Bank Anteilseigner eines dieser Zuckerkonzerne war, haben wir es geschafft, dass in Deutschland ein investigatives Magazin darüber berichtet hat. So gab es viele Hin- und Herbewegungen bei dieser ganzen Arbeit – letztendlich ist es aber so, dass der Konzern lokal gerade sehr viel Zucker produziert, während die Bevölkerung teilweise sehr verarmt ist. Besonders tragisch ist, dass sie sich nun bei dem Konzern verdingen müssen, der ihnen das Land geraubt hat, weil es keine andere Existenzmöglichkeit mehr für sie gibt. Sie leben nun unter extrem prekären Bedingungen und dürfen zweimal im Monat Unkraut zwischen den Zuckerrohrpflanzen jäten. Andere sind in die Slums von Phnom Penh gezogen und versuchen dort ihr Glück.

Das klingt nicht nach einer Erfolgsgeschichte.

Mimkes: Diese Alles-außer-Waffen-Initiative ist in der Tat als Entwicklungshilfe für arme Länder ins Leben gerufen worden: Nur die ärmsten 50 Länder der Welt durften sich daran beteiligen. Doch gerade in diesen Ländern leben 80 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Da ist es hochproblematisch, wenn diese plötzlich in Konkurrenz zu globalen Agrarkonzernen treten müssen, die ohne weiteres in die ganze Welt exportieren können und ohnehin schon entsprechende Verbindungen haben. Wir haben schon früh angemahnt, dass diese Initiative aus diesen Gründen problematisch ist und als Bumerang zurückkommen wird, doch bis heute wird das von der EU nicht wirklich anerkannt.

Diese Besserwisseraktionen haben Tradition in der Entwicklungshilfe. Wieso haben die Verantwortlichen nicht daraus gelernt?

Herre: Ich finde, das veranschaulicht sich gerade auf völkerrechtlicher Ebene sehr schön am Beispiel der sich im Widerstreit befindlichen Rechtssysteme. Wir haben das internationale Handels- und Investitionsrecht, das sehr scharfe Zähne hat, wenn es darum geht, Akteure und Länder zu bestrafen, die sich nicht daran halten. Daneben haben wir das internationale Menschenrechtssystem, das leider nur sehr weiche Überprüfungs- und Sanktionierungsmöglichkeiten hat. Ein weiteres grundlegendes Problem ist, dass die Betroffenen selbst nicht zu Wort kommen. Gerade die ländliche Bevölkerung wird seit Jahrhunderten massiv diskriminiert. Und da finde ich es schon absurd, dass beispielsweise La Via Campesina, die mit über 200 Millionen Mitgliedern größte Kleinbauernorganisation der Welt, nicht beteiligt wird, wenn die deutsche Entwicklungshilfe Strategien zur ländlichen Hungerbekämpfung erarbeitet. Auch beim Thema Land Grabbing, das vom ehemaligen Vorsitzenden der Welternährungsorganisation FAO als neofeudale Entwicklung gebrandmarkt wurde, setzen wir darauf, dass besonders diese Menschen vor Ort bei den Politikentscheidungen eine größere Rolle spielen.
Mimkes: Zur Veranschaulichung dazu noch einmal drei Zahlen, die deutlich machen, was auch hierzulande vielfach aus dem Blickwinkel geraten ist, weil ländliche Gegenden und ländli- che Produktionsweisen in unserer städtisch geprägten Vorstellung kaum noch vorkommen: 70 Prozent der Nahrungsmittel auf der Welt werden von Kleinbauern hergestellt, was einmal mehr der Idee widerspricht, dass nur die moderne Landwirtschaft in der Lage wäre, uns zu ernähren. Diese 70 Prozent werden vor Ort produziert und konsumiert und treten nicht in einen globalen Markt ein. Die zweite Zahl: Aktuell sind 2,7 Milliarden Menschen auf der Welt in der Landwirtschaft tätig – so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Landwirtschaft ist also kein Thema von Vorgestern, und das heißt, alle politischen Entscheidungen in puncto Entwicklungshilfe und Handelsabkommen müssen eine menschenrechtliche Perspektive im Blick behalten. Anders ausgedrückt: Was geschieht mit diesen 2,7 Milliarden Menschen, wenn sich die Agrarstruktur ändert, wenn wir einseitig die industrielle Landwirtschaft fördern, in der kaum Menschen arbeiten? Das ist ein sehr zentrales Problem, auf das die Politik keine Antworten gibt. Und als dritte Zahl: Mehr als 50 Prozent der ländlichen Bevölkerung leben auf Land, das auf traditionellen Besitz- und Zugangsrechten basiert. Das heißt, in den meisten Staaten gibt es keine Katasterbehörde, wo Landbefugnisse staatlicherseits eingetragen werden, sondern dort werden sie nach lokalen und traditionellen Rechtssystemen vergeben. Diese Systeme stehen durch die Expansion von großen Agrarstrukturen stark unter Druck – egal, ob wir nach Uganda, Sambia oder Paraguay schauen. Für den Aufbau einer 5.000-Hektar-Plantage muss man schließlich entweder Regenwald roden oder Land akquirieren, auf dem bereits jemand lebt und wirtschaftet.

Inwieweit ist die industrialisierte Landwirtschaft damit ein Sonderfall?

Mimkes: Für die sogenannte westliche Welt ist sie es nicht. Aber das Bestreben, dieses System weltweit zu etablieren, würde die Landwirte in Abhängigkeit bringen, wenn es nur noch zertifiziertes oder patentiertes Saatgut gibt. Auch der Einsatz externer Inputs – Energie, Düngemittel, Pestizide – ist bei dieser Art der von Bayer, Syngenta und Monsanto propagierten Landwirtschaft deutlich höher als das bei den Erzeugerndes Südens der Fall ist. Aus ökologischer Sicht müssten wir ganz anders vorgehen: Wir müssten die Saatgutvielfalt bewahren, die uns vor Klimaschwankungen schützt, und den Einsatz von Energie, Pestiziden und Dünger deutlich reduzieren. Die bestehenden Landwirtschaftsformen des Südens müssten wir eigentlich unterstützen, anstatt sie zu verdrängen. Zu diesem Schluss kommen auch die über 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des offiziellen Weltagrarberichts.

„Allein im Agrarsektor sind ausbeuterische Arbeitsbedingungen oft die Grundlage dafür, dass wir hier billige Lebensmittel konsumieren können.“ Roman Herre

Haben Bayer und Monsanto eigentlich eine Begründung für ihr Handlungsmodell? Oder sind denen die Implikationen egal?

Mimkes: Die Menschen, die bei den Unternehmen arbeiten, sind zunächst einmal meistens Leute wie du und ich. Die stehen nur extrem unter Druck, und die haben auch ganz andere Benchmarks. Es klingt banal, aber ein Unternehmen muss nun einmal Renditeerwartungen erfüllen – und wenn es das nicht tut, dann fällt es dem Wettbewerb zum Opfer, wird aus dem Markt gedrängt und verschwindet. Auf der Bayer-Hauptversammlung hat das der damalige Vorsitzende Manfred Schneider einmal ganz schön auf den Punkt gebracht: „Wir sind auf Profit aus – das ist unser Job.“ Das ist natürlich eine Binsenweisheit, aber er hat sie immerhin mal ausgesprochen. In der Politik wird häufig so getan, als ob alle Probleme gleichberechtigt an runden Tischen angegangen werden sollten. Natürlich ist es nötig, einen Austausch mit der Industrie zu pflegen, aber nicht auf Augenhöhe. Aus menschenrechtlicher Perspektive muss klar sein: Wir haben als Bevölkerung einen Staat gebildet und eine Regierung gewählt, die sich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Und das beinhaltet den Schutz vor schädlichen Tätigkeiten Dritter, also auch von Unternehmen. Ich habe hier ein Zitat vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan: „Sowohl die UN als auch die Wirtschaft dienen einem höheren Zweck: dem Schutz der Menschheit.“ Es tut mir leid, aber das ist bestenfalls naiv, das stimmt so nicht. Hier müssen wir klar die Prioritäten benennen: Die Staaten haben als allererste Pflicht die Wahrung der Menschenrechte. Das steht im Artikel 1 des Grundgesetzes, und da gehört es auch hin. Die Gewinnorientierung von Unternehmen steht hierzu in einem dauernden Spannungsverhältnis, welches man auch nicht wegdiskutieren sollte.

Noch ein Zitat: „Die Politik ist die Entertainment- Branche der Wirtschaft.“ Frank Zappa. Und die Frage: Sind diese unterschiedlichen Ziele eigentlich miteinander vereinbar?

Mimkes: Dies kann natürlich zu Konflikten führen. Aber im Grundgesetz wird schließlich kein Wirtschaftssystem vorgegeben, sondern da werden in 19 Artikeln erst einmal die Grundrechte definiert. „Menschenrechte sind die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit der Welt.“ Das kann man besser nicht formulieren. Und daraus resultiert staatlicherseits die Pflicht, Unternehmen nötigenfalls scharf zu regulieren. Oder auch zu verbieten, wenn es gar nicht anders geht.

Wie zufrieden sind Sie mit der deutschen Regierung, was deren Hellsichtigkeit und ihre Entscheidungen angeht?

Mimkes: Wir müssen schon anerkennen, dass wir in einem Teil der Welt leben, in dem die Menschenrechte als Basis der Gesellschaft nicht infrage gestellt werden und wo die Verwirklichung der Menschenrechte – bei aller Kritik – schon sehr weit fortgeschritten ist. Mit einem Blick zurück sieht man, dass wir durch historische Entwicklungen und soziale Kämpfe viel erreicht haben. Schon anders sieht es aus, wenn wir das Wirken von Deutschland in der Welt betrachten. Insofern sehen wir uns als Oppositionsgruppe, die erst einmal das Negative sieht – weil wir es verbessern wollen. Unsere Aufgabe ist es weniger, Fortschritte zu dokumentieren, sondern den Finger in die Wunde zu legen. Dorthin, wo es Probleme gibt.

Stichwort Probleme: Vor wenigen Monaten entbrannte die Diskussion um die Tafeln in Deutschland. Man wurde daran erinnert, dass viele Menschen von prekärer Armut und sogar Hunger bedroht sind. Wie kann das sein?

Mimkes: Wenn wir 900 Tafeln in Deutschland haben und 1,5 Millionen Menschen, die darauf angewiesen sind, zeigt das zunächst einmal, dass es auch hierzulande Ernährungsunsicherheit gibt. Die Sozialleistungen insbesondere für Kinder aus einkommensschwachen Familien reichen aus unserer Sicht nicht für eine ausgewogene Ernährung. Hier werden pro Tag und Kind aktuell fünf Euro veranschlagt, und laut einer Vielzahl von Studien kann eine gesunde Ernährung damit nicht gewährleistet werden. Form der Tafeln zurück an die Zivilgesellschaft. Dabei hat der Staat die Pflicht, das Recht auf Nahrung zu garantieren. Er kann nicht einfach sagen, dass sich andere darum kümmern – speziell bei Kindern und Jugendlichen sollte klar sein, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selber bestreiten können. Wenn ein Fünftel aller Kinder unter der Armutsgrenze aufwächst, ist das natürlich eine erschreckende Zahl. Das darf nicht sein, und schon gar nicht in einem reichen Land wie Deutschland.
Herre: Wobei man gerade in der globalisierten Welt nicht den Blick davon nehmen darf, dass das gute Leben, das hier ein großer Teil der Bevölkerung genießt, auch auf Kosten der Länder im globalen Süden stattfindet. Allein im Agrarsektor sind ausbeuterische Arbeitsbedingungen oft die Grundlage dafür, dass wir hier billige Lebensmittel konsumieren können. Dieses Delegieren, das sich beim Thema der Tafeln zeigt, sehen wir auch bei den Themen Menschenrechte und globaler Konsum. Hier wird sehr stark darauf gesetzt, dass über Unbedenklichkeitslabel und den Kauf von Fair-Trade-Produkten der einzelne Konsument auf einmal derjenige sein soll, der sicherstellt, dass die Menschenrechte weltweit eingehalten werden sollen. Das halten wir für einen fatalen Ansatz und für ein großes Problem der deutschen Politik. Hier wird immer stärker auf freiwillige Mechanismen gesetzt, die es zum Großteil dem Konsumenten überlassen, so einzukaufen, dass Menschenrechte eingehalten werden. Das geht am Kern menschenrechtlicher Pflichten vorbei.

„Menschenrechte sind nie in Stein gemeißelt, sondern müssen interpretiert und weiterentwickelt werden.“ Philipp Mimkes

Ist unsere Regierung überfordert vom Tempo der Globalisierung?

Herre: Das wäre in meinen Augen eine sehr positive Lesart. Ich glaube nicht, dass sie überfordert ist. Wir sehen bei unserer Arbeit oft einen Unwillen, Menschenrechten eine klare Priorität einzuräumen. Ein Beispiel, bei dem ich gänzlich unzufrieden mit der Bundesregierung bin: Wir setzen uns seit vielen Jahren – auch im konstruktiven Dialog mit der Regierung – dafür ein, dass sie das Zusatzprotokoll zum UN-Menschenrechtspakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert. Da geht es in der Grundlogik darum, eine Möglichkeit zu eröffnen, um bei Menschenrechtsverletzungen auf Basis des Paktes zu klagen. Die Bundesregierung weigert sich bis heute, dieses Zusatzprotokoll zu ratifizieren und versperrt damit wissentlich den Weg, rechtliche Möglichkeiten des Menschenrechtsschutzes zu verbessern.

Wie kann man sich bei FIAN vor diesem Hintergrund Erfolge vorstellen?

Herre: Da gibt es unterschiedliche Ebenen. Ich denke, dass es allein schon ein Erfolg ist, wenn sich die Betroffenen angemessen artikulieren können. Es ist bereits eine Stärkung, wenn wir es schaffen, ihnen diesen Raum zu geben – sei es gegenüber ihrer eigenen Regierung, sei es gegenüber der EU. Wir haben beispielsweise Betroffene von Vertreibungen zur europäischen Kommission begleitet, sodass sie selber berichten konnten, was ihnen zugestoßen ist, und selbst ihre Forderungen an die EU stellen konnten. Auch die Unterstützung der Selbstorganisation ist ein Erfolg: In Kambodscha gibt es mittlerweile einen regelmäßigen Austausch zwischen den von Zuckerrohranbau betroffenen Gemeinden, die sich so strategisch überlegen, wie sie weiter gegen die Plantagenbesitzer und Menschenrechtsverletzungen vorgehen können und was ihre nächsten Schritte sind. Und einige – wenn auch zu wenige – haben dadurch ihr Land zurückbekommen.
Mimkes: Dann gibt es die abstrakteren Erfolge. Dass die von uns dokumentierten Probleme zum Beispiel in UN-Berichten aufgeführt werden oder in den Empfehlungen des UN-Sozialausschusses, der unsere Arbeit schon häufig aufgegriffen hat. Natürlich schickt die UNO kein Militär nach Deutschland, wenn die Bundesregierung die Empfehlungen nicht umsetzt, aber für deren Legitimität ist es schon ganz wichtig, wie sie bei den internationalen Überprüfungsgremien wahrgenommen wird. Wie äußert sich der Menschenrechtsrat zur Situation in Deutschland? Wie äußert sich der Frauenrechtsausschuss, der Sozialausschuss? Unsere Berichte werden sehr wohl wahrgenommen und aufgegriffen. Ob zu 100% zu unserer Zufriedenheit, sei dahingestellt, aber sie werden sicher nicht ignoriert. Das sind konkrete, etwas indirekte Erfolge, bei denen wir in das politische Rad eingreifen. Und nicht zuletzt kann man auch stolz darauf sein, so einen Laden wie FIAN über 30 Jahre am Laufen zu halten. Man muss ja auch erst einmal Leute finden, die bereit sind, einen Teil ihres Lebens zu investieren, und mit denen es gelingt, über viele Jahre die politische Diskussion zu beeinflussen. Wir überschätzen uns nicht, aber sicherlich unterschätzen wir uns auch nicht.

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Zur Person

FIAN, oder FIAN International, das FoodFirst Informationsund Aktions-Netzwerk, wurde 1986 gegründet und setzt sich als Menschenrechtsorganisation weltweit für das Recht auf Nahrung ein. Die Organisation hat Beraterstatus bei den Vereinten Nationen und eigene Sektionen in rund 20 Ländern. FIAN Deutschland fordert insbesondere die Verantwortung deutscher Politik und deutscher Unternehmen für das weltweite Menschenrecht auf Nahrung ein. Neben den 1.300 Mitgliedern gibt es viele weitere Aktive, die sich an Eilaktionen beteiligen, Vorträge halten, beraten, übersetzen, spenden oder FIAN auf andere Weise ehrenamtlich unterstützen. Weitere Infos unter www.fian.de

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