Daniel Barenboim

Daniel Barenboim

„Der Frieden braucht kein Orchester.“

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  • Harald Hoffmann
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Zur Person

3. November 2020, Berlin. Der argentinisch-israelische Pianist und Dirigent Daniel Barenboim empfängt in seinem Büro im Verwaltungsgebäude der Staatsoper Unter den Linden. Die Frage, ob man vorsichtshalber die Maske auflassen solle, erstaunt den 78-Jährigen. Während des Gesprächs? Natürlich nicht. Bei geöffnetem Fenster und einer Tasse Espresso nimmt der erklärte Beethoven-Liebhaber und Bundesverdienstkreuzträger in einem großen Sessel Platz. Barenboim strahlt die Entspanntheit eines Menschen aus, der schon alles erlebt und über sehr vieles nachgedacht hat.

Maestro Barenboim, wenn man in diesen Tagen Beethovens 9. Sinfonie hört, kommen einem doch leise Zweifel. Die Zeile „Alle Menschen werden Brüder“ aus Schillers „Ode an die Freude“ – davon sind wir weiter entfernt denn je, oder?

Die 9. Sinfonie ist eine der größten Schöpfungen, die diese Welt je gesehen hat. Aber: Der Satz hat nie gestimmt. „Alle Menschen werden Brüder“? Mit einigen Ausnahmen. Ausgenommen die Juden zu Nazizeiten, ausgenommen die Schwarzen in vielen Teilen der Welt. Ich finde nicht den Text oder die Musik problematisch. Sondern den Umstand, wie die 9. Sinfonie angenommen wurde. In Deutschland hat sie zu allen Zeiten eine große Rolle gespielt, bei Bismarck, bei Hitler, in der DDR, auch jetzt in unserer Demokratie. Das Stück kann aber nicht wirklich politisch interpretiert werden. „Alle Menschen werden Brüder“, das ist mehr eine Hoffnung als eine Aussage.

Haben Sie diese Hoffnung noch?

Ich habe während der Corona-Krise viel darüber nachgedacht. Am Anfang dachte ich noch, vielleicht hätten die Menschen nach dieser Pandemie verstanden, dass das Virus alle attackiert, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, Arme und Reiche. Dieser Umstand, dachte ich, müsste uns eigentlich daran erinnern, dass wir alle gleich sind, dass keiner über dem anderen steht. Aber der Mensch zieht keine Lehren daraus, befürchte ich, im Gegenteil. Er ist genial darin, sich Dinge vorzustellen, Neues zu entdecken – aber mit diesen Entdeckungen weiß er dann nicht umzugehen.

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