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Cornelius-Stiftung

„Das Fensterchen, das sich öffnet – das wollen wir nutzen.“

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  • Heide Prange
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„Gott schütze uns auf dieser Welt/ vor Nippes, Kalk und Ehrenfeld.“ Vielen Kölnern ist dieser flapsige Spruch heute nicht mehr so geläufig wie noch vor fünfzig oder sechzig Jahren. Damals gaben die innerstädtischen Industrie- und Handwerksstandorte wenig begehrenswerte Wohnlagen ab. Wer dort lebte, wusste, dass das vor allem mit seinem Geldbeutel zu tun hatte.

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Heutzutage sieht das anders aus. Nippes und Ehrenfeld sind schon seit längerem dem Phänomen der Gentrifizierung unterworfen und gelten mit ihren nachbarschaftlichen Strukturen und den renovierten Dreifensterhäusern inzwischen als bevorzugte Wohnviertel. Auch durch das rechtsrheinische Köln-Kalk weht mittlerweile ein anderer Wind. In diesem lebendigen Stadtteil treffen zugereiste Studenten auf Ur-Kölner und die Nachkommen von Gastarbeitern, Multi-Kulti auf Subkultur und Eckkneipe. Dabei hat es er Zweite Weltkrieg nicht ganz so gut gemeint mit der Altbausubstanz, und auch das Durchschnittseinkommen fällt hier niedriger aus als anderswo. Hier, in einer Seitenstraße in der Näher der Kalker Kapelle, unterhält der Sozialdienst Katholischer Männer e.V. (SKM Köln) eine Kontakt- und Beratungsstelle für Suchtkranke, aus der 2001 ein neues Projekt hervorgegangen ist, das den Namen MIKADO/StandUp trägt, und von der Cornelius-Stiftung unterstützt wird.

„MIKADO ist ein Gruppenangebot für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien“, erklärt Sozialarbeiterin Miriam Müller. „In erster Linie geht uns mit diesem Projekt darum, den Kindern und Jugendlichen einen Raum zu bieten, in dem sie von ihrer Situation zu Hause erzählen können. Sie erfahren hier Gemeinschaft dadurch, dass sie auf andere Kinder und Jugendliche treffen, die in derselben Situation sind und zu Hause auch zumindest ein suchtkrankes Elternteil haben. MIKADO ist kein Therapieangebot, hat aber einen präventiven Charakter. Es geht viel darum, die eigene Verantwortung gegenüber der elterlichen Suchterkrankung abgeben zu lernen. Darüber hinaus kommt es auf die Wahrnehmung von eigenen Gefühlen an, und darauf, sie zuzulassen.“ Müller arbeitet in der Kontakt- und Beratungsstelle für Suchtkranke mit dem Schwerpunkt illegale Drogen. Einmal pro Woche finden hier die MIKADO-Treffen statt, zusammen mit dem zweiten Standort in Köln-Porz betreut das Projekt laufend circa 30 Kinder und Jugendliche. Der Sozialpädagoge Norbert Teutenberg ist der Leiter des Projekts und macht eine schwindelerregend hohe Rechnung auf. „Man geht davon aus, dass jedes sechste Kind in einer durch Sucht belasteten Familie aufwächst“, sagt er. „In einer Schulklasse mit 30 Kindern sind das im Durchschnitt schon fünf. Und keiner, der das nicht selber kennengelernt hat, kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn die Zehnjährige mittags von der Schule nach Hause kommt und der Vater oder die Mutter liegt betrunken auf dem Sofa. MIKADO beziehungsweise StandUp soll ein Ort sein, an dem es möglich ist, auf eine altersangemessene Weise das zu thematisieren, was man zu Hause erlebt, und einen Umgang damit zu finden. Denn so eine Situation kann man ja erst einmal nicht kurzfristig verändern.“

„Keiner, der das nicht selber kennengelernt hat, kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn die Zehnjährige mittags von der Schule nach Hause kommt und der Vater oder die Mutter liegt betrunken auf dem Sofa.“ - Norbert Teutenberg

Umso wichtiger, dass das MIKADO-Personal einen langen Atem hat. „Über die auf Plakaten in den städtischen Bus- und Bahnlinien veröffentlichte Telefonnummer kamen bereits Hunderte von Anrufen. Einige werden zu längeren Kontakten, es sind auch schon Jugendliche darüber in den Gruppen angekommen“, sagt Teutenberg. Der Zulauf zu den Gruppen kommt aus verschiedenen Richtungen: über die Jugendämter und verschiedene Jugendeinrichtungen, über die durch die Cornelius-Stiftung möglich gemachte Öffentlichkeit, und nicht zuletzt „über die Klienten, die wir sowieso schon kennen. Von denen wir wissen, dass sie Kinder haben, und die wir dann auch gezielt ansprechen.“ Das Angebot unterteilt sich in zwei Gruppen: Kinder von sieben bis elf Jahre, und Jugendliche von zwölf bis siebzehn. „Die Jugendgruppe würde ich eher als offene Gesprächsrunde beschreiben, das heißt, die Jugendlichen tauschen sich mit uns über Themen zu Hause aus, was die elterliche Sucht angeht, aber auch über erste eigene Konsumerfahrungen“, sagt Miriam Müller. „Bei den Kindern ist es dagegen eher so, dass das Thema Sucht auf spielerische Weise von uns eingebracht wird.“ In beiden Fällen ist es wichtig, den Betroffenen die Scham zu nehmen, die sich praktisch immer mit der Thematik verbindet. „Sucht ist nach wie vor ein Tabuthema, über das oft nicht gesprochen wird“, weiß Müller. „Selbst unter besten Freunden gibt es die Angst: Was wird womöglich an andere Klassenkameraden weitergegeben, die vielleicht nicht informiert werden sollten? Kinder aus suchtbelasteten Familien spüren oft auch die Verantwortung, die Eltern schützen zu wollen und zeigen sich sehr solidarisch mit ihnen. Wir hatten hier in der Gruppe schon den Fall, dass sich zwei beste Freundinnen getroffen haben, die sich jahrelang kannten, aber nichts davon wussten, dass sie eigentlich in ähnlichen Lebenssituationen aufgewachsen sind. Grundsätzlich hat diese Arbeit viel mit Vertrauen zu tun“, sagt Teutenberg. „Dass die Kinder in einem eine Konstante sehen, eine Vertrauensperson, die immer für sie da ist. Der Punkt, an dem offen über das, was zu Hause passiert, geredet wird, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Manche sagen schon in der ersten Gruppenstunde, dass ihr Vater ein Problem mit Alkohol hat, und welche Konsequenzen das nach sich zieht. Andere trauen sich erst nach zwei Jahren zu erzählen, was der Grund ist, warum sie hier sind.“ Wer zu MIKADO geht, hat sich dazu übrigens vorher die Einverständniserklärung seiner Eltern eingeholt. Auch das ein wichtiger Punkt, weil er die verantwortlichen Personen mit einbindet. „Wir legen großen Wert auf Elternarbeit, weil wir gemerkt haben, dass es für die Kinder wesentlich leichter wird, wenn man die Eltern mit ins Boot holt und so das Familiensystem stärkt“, sagt Norbert Teutenberg. „Auch suchtkranke Eltern haben schließlich ein Interesse daran, dass es ihren Kindern gut geht. Wir vermitteln ihnen auch klar, dass wir hier am selben Strang ziehen und dasselbe Ziel verfolgen: dass das Kind möglichst gesund aufwachsen kann.“ Dazu führen die MIKADO-Mitarbeiter regelmäßige Elterngespräche, veranstalten alle drei Monate einen Elternabend zum offenen Austausch über Erziehungsthemen und bieten alle sechs bis acht Wochen eine Freizeitaktivität als Eltern-Kind-Aktion an. Darüber hinaus geht es einmal im Jahr auf eine fünftägige Ferienfreizeit mit den Eltern und einem Erlebnispädagogen. „Wenn die Kinder dann beispielsweise in der Kletterwand hängen, und die Eltern halten das Seil, ist das eine wichtige Erfahrung für sie, und zwar: Meine Eltern können mich tragen, können mich halten. Das kennen die aus ihrem Alltag sonst nicht. Umgekehrt ist es auch für die Eltern eine wichtige Erfahrung, mitzukriegen, was ihre Kinder eigentlich schon alles können und was sie noch von ihnen brauchen.“

Die Erfolge können nicht nur die MIKADO-Mitarbeiter beobachten, sondern auch die Kinder und Jugendlichen – und nicht zuletzt ihre Eltern. „Je länger die Kinder die Gruppe besuchen, desto gestärkter gehen sie hier heraus und desto selbstbewusster treten sie auch ihren Eltern gegenüber auf“, sagt Miriam Müller. „Das verändert wiederum die Eltern-Kind-Beziehung, was für die Eltern oft auch eine Umstellung bedeutet. Plötzlich sagt ihnen nämlich das Kind: Es ist deine Aufgabe, den Haushalt zu führen und sich um meine Geschwister zu kümmern und nicht meine. Kinder beziehen die Suchtproblematik der Eltern ansonsten schnell auf sich und denken: Ich muss mich anders verhalten, dann muss Mama nicht mehr trinken, muss Papa keine Drogen nehmen. Wenn Mama dann trotzdem weiter trinkt oder Papa trotzdem weiter Drogen nimmt, machen sie sich das selbst zum Vorwurf. Sie bekommen das Gefühl, dass sie sich noch mehr kümmern müssen und geraten in eine Schleife, in der sie sich selbst die Verantwortung geben für das, was zuhause passiert. Unser Ziel ist es, hier eine verlässliche und langfristige Bindung herzustellen. Deswegen ist MIKADO/StandUp als eine lebensphasenbegleitende Hilfe angelegt. Eine Art Patenschaft, die den Kindern und Jugendlichen behutsam vermittelt: Nicht du bist das Problem – deine Mutter, dein Vater haben ein Problem.“ „Es ist einerseits eine sehr dankbare Aufgabe, weil man dadurch an einer langen Entwicklung teilhat“, sagt auch Norbert Teutenberg. „Andererseits ist man immer wieder mit Situationen konfrontiert, die einen ein Stück weit betroffen machen, auch weil die Problematik so weit verbreitet ist. Es gibt sehr valide Studien, die besagen, dass ein Drittel der Kinder aus suchterkrankten Familien später eine eigene Sucht und ein weiteres Drittel eine psychische Problematik entwickelt. Das sind immense Zahlen. In den letzten 15 Jahren hatten wir hier 200 Kinder, die zum größten Teil weiter im Stadtteil wohnen geblieben sind. Von fünf haben wir mitbekommen, dass sie später selber Suchtmittelkonsumenten geworden und dann wieder hier in der Beratungsstelle aufgetaucht sind. Ich glaube, wenn das deutlich mehr wären, hätten wir das ebenfalls erfahren, weil die dann früher oder später wieder hier gelandet wären. Fünf von 200 ist wesentlich weniger als zwei Drittel. Ich behaupte daher: Das Programm ist hochwirksam. Natürlich könnte man sagen: Wenn jedes sechste Kind in einer von Sucht belasteten Familie aufwächst, wären das bei einer Stadt von der Größe Kölns 18.000 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 17 Jahren. Wir haben 30, es fehlen also noch 17.970. Wo sind die alle? Ich weiß es nicht. Aber eins kann ich sagen: MIKADO mag im Vergleich zu den absoluten Zahlen ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Aber für diese 30 Kinder und Jugendlichen ist es echt wichtig.“

„MIKADO/StandUp soll ein Ort sein, an dem es möglich ist, auf eine altersangemessene Weise das zu thematisieren, was man zu Hause erlebt, und einen Umgang damit zu finden. Denn so eine Situation kann man ja erst einmal nicht kurzfristig verändern.“ -Norbert Teutenberg

Neben MIKADO/StandUp unterstützt die Cornelius-Stiftung in Köln noch zwei weitere Projekte mit ähnlicher Ausrichtung. Die Stiftung selbst wurde 2001 von der Familie Zimmer und der Corpus Sireo Immobiliengruppe ins Leben gerufen, um sich neben anderen kleinteiligeren Projekten für ein Feld zu engagieren, das unter mangelnder Beachtung leidet. Die Hintergründe sind auch privater Natur. Wie viele Familien, hat auch Familie Zimmer Erfahrungen mit suchtkranken Familienmitgliedern sammeln müssen. „Wir hatten schon früh über eine Stiftung nachgedacht, als bei der eigenen Recherche nachweisbar geworden war, dass nur fünf Prozent aller Suchtberatungsstellen ab und an ein Angebot für die mitleidenden Kinder hatten. Dabei muss man hier generell früh ansetzen, damit sich diese Probleme nicht verlagern oder fortsetzen. Ich wünsche mir, dass die Notwendigkeit, hier zu helfen, noch deutlicher wird, vor allem in der Öffentlichkeit. Und ich wünsche mir, dass es hier von Bundes- und Landesseite zu Regelfinanzierungen kommt, damit solche Projekte nicht nur dann funktionieren, wenn Stiftungen mit einspringen. Das gilt insbesondere für Einrichtungen, die schon seit Jahren bestehen und damit schon nicht mehr bloß Projekte sind“, sagt Karen Zimmer. Zuversichtlich stimmt sie der aktuelle Drogenbericht der Bundesregierung, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, auch die Kinder aus suchtbelasteten Familien aus dem Schatten und ins Bewusstsein zu holen. Und noch zuversichtlicher macht sie die Arbeit des Cornelius-Hauses, das mit Unterstützung der Stiftung ein weiteres Pilotprojekt betreibt: eine Clearing-Wohnen-Einrichtung für suchtkranke Schwangere und Mütter.

Das Cornelius-Haus liegt in der Kölner Innenstadt im langen Schatten des Doms und reiht sich mit seiner zweckmäßigen Fassade in die eher schmucklosen Häuserfronten der autogerecht zerschneisten Stadt ein. Früher fand am nahegelegenen Hauptbahnhof noch Straßenprostitution statt, weshalb der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) „schon einen Fuß in der Tür hatte“, wie sich die Sozialarbeiterin Monika Denizer ausdrückt. Der 1899 gegründete SkF engagierte sich schon immer in der Obdachlosen-, Drogen-, Straffälligen- und Prostituiertenhilfe. Denizer leitet die Abteilung Sucht und Psychische Erkrankungen beim SkF, der in Köln mit 47 Einrichtungen vor Ort ist und unter anderem Mutter-Kind-Einrichtungen, Kindertageseinrichtungen, Einrichtungen der Suchthilfe, betreute Wohnangebote für psychisch erkrankte und suchterkrankte Frauen und ambulante Familienhilfe anbietet. Im Hochparterre des Hauses betreibt er außerdem das Café MäcUp, eine Anlauf-, Kontakt- und Beratungsstelle für weibliche Obdachlose, ehemalige Obdachlose und Klientinnen der Prostituiertenhilfe, die hier frühstücken, duschen, Wäsche waschen oder sich Hilfe etwa bei Ämtergängen besorgen können. Seit 2005 beherbergt das Haus außerdem vier Apartments für Schwangere und Mütter, die dem so genannten Clearing-Wohnen gewidmet sind, einem neuartigen und ehrgeizigen Projekt, das in einem Verbund mit vielen weiteren Einrichtungen des SkF durchgeführt wird, um möglichst vielfältige Kompetenzen einbringen zu können. „Das Clearing-Wohnen für suchtkranke Schwangere und Mütter dient der Abklärung der Erziehungsfähigkeit und der weiteren Perspektiven von Mutter und Kind“, erklärt Diplom-Psychologin Ilka Reinert, ein wichtiges Mitglied des vielköpfigen multiprofessionellen Teams. „Eine Perspektive muss dabei nicht zwangsläufig das Zusammenleben sein, sondern könnte auch eine Trennung bedeuten. Wir blicken hier gemeinsam mit der Mutter auf die Perspektiven, die Ressourcen und die Defizite. Wir möchten abklären: Wird die Mutter ihr Kind verantwortungsvoll aufziehen können oder sich für das Leben mit Drogen und im Milieu entscheiden? Ganz allgemein versuchen wir die Frauen dahingehend fit zu machen, dass sie ihre Entscheidungen und deren Konsequenzen richtig einschätzen können. Das bedeutet teilweise auch sehr konfrontative Reflektionsgespräche, denn viele Frauen möchten diese Entscheidungen aufschieben. Diese Zeit hat ein Kind aber nicht. Kinder entwickeln sich schnell und brauchen präsente Mütter, die Bindungen anbieten.“

„Nur fünf Prozent aller Suchtberatungsstellen haben ein Angebot für die mitleidenden Kinder.“ -Karen Zimmer

Eine Kinderkrankenschwester, drei Sozialarbeiterinnen, eine Psychologin und mehrere Erzieherinnen stehen dem Clearing-Wohnprojekt dabei zur Verfügung – im Auftrag des Jugendamts und jeweils eng verknüpft mit weiteren Fachkräften im medizinischen und sozialen Bereich. „Es gibt natürlich auch klassische Therapie-Einrichtungen, aber dieses Wohnprojekt ist in dieser Form einzigartig“, erklärt Monika Denizer. „Es war auch eine große Herausforderung für das Jugendamt Köln, dieses Risiko einzugehen, denn bis vor einigen Jahren war die schnelle Herausnahme eines Kindes bei einer Suchterkrankung der Mutter die Regel. Wir dagegen nehmen auch akut süchtige, konsumierende Frauen hier auf, die wir dann auf dem Weg zur Substitution begleiten.“ Offenbar wird das Angebot angenommen. 376 Anfragen gab es in den letzten Jahren, und 86 Frauen, die hier gelebt haben – darunter lediglich zwei sogenannte Selbstmelderinnen. Der Rest war bereits in Sucht- oder Prostitutionshilfe verankert oder wurde etwa durch Kinderärzte oder das Jugendamt vermittelt. „Viele sind hier auch nicht mit ihrem ersten Kind, sondern mit dem zweiten oder dem dritten“, sagt Ilka Reinert, was auch die Scheu erklärt, mit der viele Frauen dem Projekt zunächst begegnen. „Die meisten machen einen Riesenbogen um das Jugendamt, auch weil sie zum Teil selber aus Familien kommen, die schon mehrgenerational durch das Jugendamt versorgt worden sind. Oder, weil es bereits zu Kindsentnahmen kam.“ Neben der Angst kann sich über die bevorstehende Schwangerschaft aber auch neue Motivation einstellen, weiß die Psychologin. „Eine Schwangerschaft ist immer ein lebensumstülpendes Element, aber gerade für süchtige Frauen verbindet sich damit oft die Verheißung einer Wende und eines komplett anderen Lebens“, sagt sie. „Dieses Fensterchen, dass sich dann öffnet, das wollen wir nutzen. Clearing bedeutet, dass sie sich hier mit allem, was sie haben, einbringen. Mit ihren Schwächen, aber auch mit ihrem Begehren, mit dem, was sie wirklich wollen. Es soll ein geschützter Raum sein, in dem sich informierte Entscheidungen treffen lassen, abseits der gewohnten Situationen.“

Am Ende der Entscheidung kann selbstverständlich nicht immer die gemeinsame Zukunft stehen, sondern oft auch die bewusste Trennung. „Es gibt Frauen, die merken, dass sie die Hürden nicht schaffen, um in angemessene Bindung mit ihrem Kind zu kommen, und die ihr Kind dann abgeben“, berichtet Reinert. „Das glaubt man oft nicht, aber auch diese Mütter bedanken sich hinterher dafür, dass sie hier einen Ort hatten, wo sie sich diese Entscheidung zumindest gut überlegen und das Kind dann in verantwortungsvolle Hände geben konnten. Wenn man den Müttern nämlich nicht die Perspektive des Kindes näherbringt und das, was es braucht, sind diese Trennungen hochtraumatisch und traumatisierend. Hier dagegen merken die Frauen, dass unsere Hilfe nicht nur Kontrolle und Konfrontation bedeutet, sondern tatkräftige Unterstützung. Wir sorgen auch dafür, dass sie die Pflegeeltern in der Regel mit aussuchen und anschließend mit dem Kind in Kontakt bleiben können. Das macht einen großen Unterschied, denn so fühlen sich die Mütter als bestimmender Teil, was die Zukunft des Kindes angeht. Sie werden damit in eine aktive Rolle gebracht, in der sie für ihre Entscheidung geachtet werden. Das ist eine ganz andere Ausgangsposition, eine ganz andere Form von Autonomie.“

„Erfolg sieht für mich so aus, dass mit einer Frau und einem Kind so gut gearbeitet wurde, dass die Frau die Hilfe annehmen konnte und für sich eine verantwortliche Entscheidung treffen konnte.“ -Ilka Reinert

In der Praxis sieht das Clearing Wohnen folgendermaßen aus: Die Schwangeren und Mütter (mit Kindern bis zum 6. Lebensjahr) erscheinen zu zwei Vorstellungsgesprächen, die anschließend in einer ausführlichen Suchtanamnese münden. Ziel ist eine größtmögliche Transparenz, um auch Komorbiditäten wie psychische und andere Erkrankungen feststellen zu können. Der Gesundheit des Kindes nehmen sich die Mitarbeiter ebenfalls an, vermitteln Ärzte, Frühförderzentren, Kita-Plätze und Mutter-Kind-Gruppen. Das Clearing-Wohnprojekt ist gut mit dem übrigen Hilfssystem vernetzt, um hier nicht die einzige Säule zu bleiben. Das schließt die Integration der Kindsväter sowie der Partner und Bezugspersonen ein. „Man kann mütterliche Verantwortung und Erziehungskompetenz trainieren“, sagt Reinert. „Väterliche übrigens auch.“

Mittels einer großflächigen Plakatkampagne wird die Telefonnummer kommuniziert, unter der sich betroffene Kinder melden können.

Zentraler Punkt des Angebots ist auch die Entgiftung, mit Suchttherapie und anschließender Abstinenz. In enger Zusammenarbeit mit Fachkräften und unter ärztlicher Aufsicht werden bei praktisch allen Klientinnen Drogen-Substitutionen vorgenommen, was vor allem während der Schwangerschaft ein hochkomplexes Unterfangen ist. „Eine Voraussetzung dabei ist natürlich, Abstand von dem alten Leben und dem Drogenmilieu zu nehmen, um den Schritt in die normale, von uns geteilte gesellschaftliche Sphäre zu machen“, sagt Ilka Reinert, die hier eine große Klippe auf dem Kurs der Frauen erkennt. „Die Liebe kann noch so groß sein, es muss letztendlich auch das Vermögen vorhanden sein, auf die Bedürfnisse des Kindes angemessen einzugehen. Neben dem Wunsch, diese neue Herausforderung zu meistern, muss sich die Frau auch mit ihren Möglichkeiten auseinandersetzen, das einzulösen.“ Reinert findet, dass ihre Arbeit trotz aller Härten einen spürbaren Unterschied macht – bei den Klientinnen und nicht zuletzt bei sich selbst. „Mir gibt es sehr viel, wenn Frauen hier zu sich finden“, sagt sie. „Egal mit welchem Ergebnis. Denn ein Erfolg sieht für mich so aus, dass mit einer Frau und einem Kind so gut gearbeitet wurde, dass die Frau die Hilfe annehmen und für sich eine verantwortliche Entscheidung treffen konnte. Dass sie hier selbstbestimmter rausgeht als sie reingekommen ist.“

Über das Projekt KidKit

Mit einer Mischung aus salopper Sprache und ernstem Anliegen bietet die Internetplattform KidKit bundesweit „Hilfe bei Problemeltern“. Es ist das dritte große Schwerpunktprojekt der Cornelius-Stiftung, das die Zielsetzung verfolgt, Hilfsangebote für Kinder suchtkranker Eltern miteinander zu vernetzen. Ein Informationsgespräch mit der Projektleiterin und Diplom-Sozialpädagogin Anna Buning.

Frau Buning, wie und mit welcher Zielsetzung wurde das Projekt KidKit gegründet?

Initiiert wurde es im Jahr 2002 von Prof. Dr. Michael Klein, dem Leiter des Deutschen Instituts für Sucht- und Präventionsforschung und Professor für Klinische und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule NRW. Er hat zuvor in verschiedenen Fachkliniken als Klinischer Psychologe/Psychotherapeut gearbeitet und dabei den Eindruck gewonnen, dass Kinder suchtkranker Eltern in vielerlei Hinsicht zu kurz kommen. Das System hat sie nicht genug im Blick, zudem sind sie schwer zu erreichen. Aus Angst und Scham fällt es vielen von ihnen schwer, Hilfe anzunehmen. Daher empfiehlt sich ein niedrigschwelliges Angebot, bei dem man sich erst einmal anonym melden kann – und genau das bietet unsere Internetseite mit Online- und Chatberatung.

Wer betreut das Angebot?

Für KidKit wurde zunächst der gemeinnützige Verein namens „KOALA“ gegründet, darüber hinaus kooperieren wir mit der Drogenhilfe Köln. Hier gibt es für KidKit derzeit vier hauptamtliche Mitarbeiter, die in der Beratungspraxis fit sind. Hinzu kommen zwölf ehrenamtliche Mitarbeiter, die für die Beratung geschult worden sind.

Wie kann man sich eine solche Beratung vorstellen?

Zunächst melden sich die Betroffenen entweder unter der Chat-Beratung oder unter der Online-Beratung bei uns, in der Regel anonym mit einem Nickname. Oftmals wird uns zuerst die Frage gestellt, ob das auch wirklich alles anonym vonstattengeht, woraufhin wir kurz erklären, wie das bei uns läuft. Über die nächsten Wochen erzählen uns die Kinder dann nach und nach von ihren Problemen, woraufhin wir gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen. KidKit wendet sich hier nicht nur an Kinder und Jugendliche, die unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden, wir beraten auch, wenn etwa psychische Erkrankungen bei den Eltern vorliegen oder es in der Familie Gewalt oder sexuellen Missbrauch gibt. Unser Ziel ist es, den Betroffenen einen sicheren virtuellen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem sie ohne Vorbehalte von ihren Erfahrungen berichten können. Es geht aber auch darum, sie an eine Hilfseinrichtung vor Ort zu vermitteln, die ihnen langfristig helfen kann.

Wie werden die Betroffenen im Idealfall auf Ihr Angebot aufmerksam?

Wir leisten viel Öffentlichkeitsarbeit und haben verschiedene Kampagnen ins Leben gerufen, zum Beispiel eine erfolgreiche Plakatkampagne in U-Bahnen und die Produktion und Veröffentlichung eines Musikvideos und eines animierten Videoclips. Derzeit planen wir die Videos in Kino-Werbeblöcken vor dem Nachmittagsprogramm unterzubringen. Auch wollen wir verstärkt im Internet auf KidKit aufmerksam machen. Dazu dient ab nächstem Jahr auch das Projekt KidKit-Networks.

Was hat es damit auf sich?

Wir richten eine digitale Landkarte und eine Datenbank ein, auf der alle Angebote, die es für Kinder und Jugendliche suchtkranker, gewalttätiger, psychisch kranker und glücksspielsüchtiger Eltern gibt, verzeichnet sind. Eine solche aktuelle Übersicht hierzu fehlt bisher, so dass es Kindern, Jugendlichen, aber auch Angehörigen, Lehrern und Fachkräften schwerfällt, gezielt ein passendes Angebot zu finden. Selbst wir mussten in unserer Arbeit beobachten, dass oft unnötig viel Recherche notwendig war, um Kinder und Jugendliche an die richtigen Stellen zu vermitteln. Im Zuge des Aufbaus dieser Datenbank haben wir endlich mit allen relevanten Stellen bundesweit gesprochen und in Erfahrung gebracht, wo die entsprechenden Schwerpunkte liegen. Im April nächsten Jahres gehen wir damit an den Start.

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Zur Person

Punktgenaue Unterstützung, innovative Hilfsangebote und ein langfristiges Engagement. Die Cornelius-Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern aus Familien mit Suchtproblemen beizustehen. Dazu finanziert sie in Köln drei Schwerpunktprojekte, die in ihrer Form bundesweit einzigartig sind – noch. Denn wenn diese Ansätze Schule machen, könnten sie in ganz Deutschland ein vernachlässigtes Problem lösen helfen. Im Gespräch mit den Mitarbeitern vor Ort begegnet man Tatendrang, Enthusiasmus und vorsichtigem Optimismus.

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