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Cornelius-Stiftung

„Das Fensterchen, das sich öffnet – das wollen wir nutzen.“

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  • Heide Prange
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„Gott schütze uns auf dieser Welt/ vor Nippes, Kalk und Ehrenfeld.“ Vielen Kölnern ist dieser flapsige Spruch heute nicht mehr so geläufig wie noch vor fünfzig oder sechzig Jahren. Damals gaben die innerstädtischen Industrie- und Handwerksstandorte wenig begehrenswerte Wohnlagen ab. Wer dort lebte, wusste, dass das vor allem mit seinem Geldbeutel zu tun hatte.

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Heutzutage sieht das anders aus. Nippes und Ehrenfeld sind schon seit längerem dem Phänomen der Gentrifizierung unterworfen und gelten mit ihren nachbarschaftlichen Strukturen und den renovierten Dreifensterhäusern inzwischen als bevorzugte Wohnviertel. Auch durch das rechtsrheinische Köln-Kalk weht mittlerweile ein anderer Wind. In diesem lebendigen Stadtteil treffen zugereiste Studenten auf Ur-Kölner und die Nachkommen von Gastarbeitern, Multi-Kulti auf Subkultur und Eckkneipe. Dabei hat es er Zweite Weltkrieg nicht ganz so gut gemeint mit der Altbausubstanz, und auch das Durchschnittseinkommen fällt hier niedriger aus als anderswo. Hier, in einer Seitenstraße in der Näher der Kalker Kapelle, unterhält der Sozialdienst Katholischer Männer e.V. (SKM Köln) eine Kontakt- und Beratungsstelle für Suchtkranke, aus der 2001 ein neues Projekt hervorgegangen ist, das den Namen MIKADO/StandUp trägt, und von der Cornelius-Stiftung unterstützt wird.

„MIKADO ist ein Gruppenangebot für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien“, erklärt Sozialarbeiterin Miriam Müller. „In erster Linie geht uns mit diesem Projekt darum, den Kindern und Jugendlichen einen Raum zu bieten, in dem sie von ihrer Situation zu Hause erzählen können. Sie erfahren hier Gemeinschaft dadurch, dass sie auf andere Kinder und Jugendliche treffen, die in derselben Situation sind und zu Hause auch zumindest ein suchtkrankes Elternteil haben. MIKADO ist kein Therapieangebot, hat aber einen präventiven Charakter. Es geht viel darum, die eigene Verantwortung gegenüber der elterlichen Suchterkrankung abgeben zu lernen. Darüber hinaus kommt es auf die Wahrnehmung von eigenen Gefühlen an, und darauf, sie zuzulassen.“ Müller arbeitet in der Kontakt- und Beratungsstelle für Suchtkranke mit dem Schwerpunkt illegale Drogen. Einmal pro Woche finden hier die MIKADO-Treffen statt, zusammen mit dem zweiten Standort in Köln-Porz betreut das Projekt laufend circa 30 Kinder und Jugendliche. Der Sozialpädagoge Norbert Teutenberg ist der Leiter des Projekts und macht eine schwindelerregend hohe Rechnung auf. „Man geht davon aus, dass jedes sechste Kind in einer durch Sucht belasteten Familie aufwächst“, sagt er. „In einer Schulklasse mit 30 Kindern sind das im Durchschnitt schon fünf. Und keiner, der das nicht selber kennengelernt hat, kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn die Zehnjährige mittags von der Schule nach Hause kommt und der Vater oder die Mutter liegt betrunken auf dem Sofa. MIKADO beziehungsweise StandUp soll ein Ort sein, an dem es möglich ist, auf eine altersangemessene Weise das zu thematisieren, was man zu Hause erlebt, und einen Umgang damit zu finden. Denn so eine Situation kann man ja erst einmal nicht kurzfristig verändern.“

„Keiner, der das nicht selber kennengelernt hat, kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn die Zehnjährige mittags von der Schule nach Hause kommt und der Vater oder die Mutter liegt betrunken auf dem Sofa.“ - Norbert Teutenberg

Umso wichtiger, dass das MIKADO-Personal einen langen Atem hat. „Über die auf Plakaten in den städtischen Bus- und Bahnlinien veröffentlichte Telefonnummer kamen bereits Hunderte von Anrufen. Einige werden zu längeren Kontakten, es sind auch schon Jugendliche darüber in den Gruppen angekommen“, sagt Teutenberg. Der Zulauf zu den Gruppen kommt aus verschiedenen Richtungen: über die Jugendämter und verschiedene Jugendeinrichtungen, über die durch die Cornelius-Stiftung möglich gemachte Öffentlichkeit, und nicht zuletzt „über die Klienten, die wir sowieso schon kennen. Von denen wir wissen, dass sie Kinder haben, und die wir dann auch gezielt ansprechen.“ Das Angebot unterteilt sich in zwei Gruppen: Kinder von sieben bis elf Jahre, und Jugendliche von zwölf bis siebzehn. „Die Jugendgruppe würde ich eher als offene Gesprächsrunde beschreiben, das heißt, die Jugendlichen tauschen sich mit uns über Themen zu Hause aus, was die elterliche Sucht angeht, aber auch über erste eigene Konsumerfahrungen“, sagt Miriam Müller. „Bei den Kindern ist es dagegen eher so, dass das Thema Sucht auf spielerische Weise von uns eingebracht wird.“ In beiden Fällen ist es wichtig, den Betroffenen die Scham zu nehmen, die sich praktisch immer mit der Thematik verbindet. „Sucht ist nach wie vor ein Tabuthema, über das oft nicht gesprochen wird“, weiß Müller. „Selbst unter besten Freunden gibt es die Angst: Was wird womöglich an andere Klassenkameraden weitergegeben, die vielleicht nicht informiert werden sollten? Kinder aus suchtbelasteten Familien spüren oft auch die Verantwortung, die Eltern schützen zu wollen und zeigen sich sehr solidarisch mit ihnen. Wir hatten hier in der Gruppe schon den Fall, dass sich zwei beste Freundinnen getroffen haben, die sich jahrelang kannten, aber nichts davon wussten, dass sie eigentlich in ähnlichen Lebenssituationen aufgewachsen sind. Grundsätzlich hat diese Arbeit viel mit Vertrauen zu tun“, sagt Teutenberg. „Dass die Kinder in einem eine Konstante sehen, eine Vertrauensperson, die immer für sie da ist. Der Punkt, an dem offen über das, was zu Hause passiert, geredet wird, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Manche sagen schon in der ersten Gruppenstunde, dass ihr Vater ein Problem mit Alkohol hat, und welche Konsequenzen das nach sich zieht. Andere trauen sich erst nach zwei Jahren zu erzählen, was der Grund ist, warum sie hier sind.“ Wer zu MIKADO geht, hat sich dazu übrigens vorher die Einverständniserklärung seiner Eltern eingeholt. Auch das ein wichtiger Punkt, weil er die verantwortlichen Personen mit einbindet. „Wir legen großen Wert auf Elternarbeit, weil wir gemerkt haben, dass es für die Kinder wesentlich leichter wird, wenn man die Eltern mit ins Boot holt und so das Familiensystem stärkt“, sagt Norbert Teutenberg. „Auch suchtkranke Eltern haben schließlich ein Interesse daran, dass es ihren Kindern gut geht. Wir vermitteln ihnen auch klar, dass wir hier am selben Strang ziehen und dasselbe Ziel verfolgen: dass das Kind möglichst gesund aufwachsen kann.“ Dazu führen die MIKADO-Mitarbeiter regelmäßige Elterngespräche, veranstalten alle drei Monate einen Elternabend zum offenen Austausch über Erziehungsthemen und bieten alle sechs bis acht Wochen eine Freizeitaktivität als Eltern-Kind-Aktion an. Darüber hinaus geht es einmal im Jahr auf eine fünftägige Ferienfreizeit mit den Eltern und einem Erlebnispädagogen. „Wenn die Kinder dann beispielsweise in der Kletterwand hängen, und die Eltern halten das Seil, ist das eine wichtige Erfahrung für sie, und zwar: Meine Eltern können mich tragen, können mich halten. Das kennen die aus ihrem Alltag sonst nicht. Umgekehrt ist es auch für die Eltern eine wichtige Erfahrung, mitzukriegen, was ihre Kinder eigentlich schon alles können und was sie noch von ihnen brauchen.“

Die Erfolge können nicht nur die MIKADO-Mitarbeiter beobachten, sondern auch die Kinder und Jugendlichen – und nicht zuletzt ihre Eltern. „Je länger die Kinder die Gruppe besuchen, desto gestärkter gehen sie hier heraus und desto selbstbewusster treten sie auch ihren Eltern gegenüber auf“, sagt Miriam Müller. „Das verändert wiederum die Eltern-Kind-Beziehung, was für die Eltern oft auch eine Umstellung bedeutet. Plötzlich sagt ihnen nämlich das Kind: Es ist deine Aufgabe, den Haushalt zu führen und sich um meine Geschwister zu kümmern und nicht meine. Kinder beziehen die Suchtproblematik der Eltern ansonsten schnell auf sich und denken: Ich muss mich anders verhalten, dann muss Mama nicht mehr trinken, muss Papa keine Drogen nehmen. Wenn Mama dann trotzdem weiter trinkt oder Papa trotzdem weiter Drogen nimmt, machen sie sich das selbst zum Vorwurf. Sie bekommen das Gefühl, dass sie sich noch mehr kümmern müssen und geraten in eine Schleife, in der sie sich selbst die Verantwortung geben für das, was zuhause passiert. Unser Ziel ist es, hier eine verlässliche und langfristige Bindung herzustellen. Deswegen ist MIKADO/StandUp als eine lebensphasenbegleitende Hilfe angelegt. Eine Art Patenschaft, die den Kindern und Jugendlichen behutsam vermittelt: Nicht du bist das Problem – deine Mutter, dein Vater haben ein Problem.“ „Es ist einerseits eine sehr dankbare Aufgabe, weil man dadurch an einer langen Entwicklung teilhat“, sagt auch Norbert Teutenberg. „Andererseits ist man immer wieder mit Situationen konfrontiert, die einen ein Stück weit betroffen machen, auch weil die Problematik so weit verbreitet ist. Es gibt sehr valide Studien, die besagen, dass ein Drittel der Kinder aus suchterkrankten Familien später eine eigene Sucht und ein weiteres Drittel eine psychische Problematik entwickelt. Das sind immense Zahlen. In den letzten 15 Jahren hatten wir hier 200 Kinder, die zum größten Teil weiter im Stadtteil wohnen geblieben sind. Von fünf haben wir mitbekommen, dass sie später selber Suchtmittelkonsumenten geworden und dann wieder hier in der Beratungsstelle aufgetaucht sind. Ich glaube, wenn das deutlich mehr wären, hätten wir das ebenfalls erfahren, weil die dann früher oder später wieder hier gelandet wären. Fünf von 200 ist wesentlich weniger als zwei Drittel. Ich behaupte daher: Das Programm ist hochwirksam. Natürlich könnte man sagen: Wenn jedes sechste Kind in einer von Sucht belasteten Familie aufwächst, wären das bei einer Stadt von der Größe Kölns 18.000 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 17 Jahren. Wir haben 30, es fehlen also noch 17.970. Wo sind die alle? Ich weiß es nicht. Aber eins kann ich sagen: MIKADO mag im Vergleich zu den absoluten Zahlen ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Aber für diese 30 Kinder und Jugendlichen ist es echt wichtig.“

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