Christian Wulff
„Es herrscht viel Angst in diesem Land.“
Zur Person
Christian Wulff (geboren am 19. Juni 1959 in Osnabrück) trat im Alter von 16 Jahren in die CDU ein. Nach seinem Abitur studierte er Jura und wurde Rechtsanwalt. Parallel dazu gelang ihm eine steile Karriere in der Politik. Von 1979 bis 1983 war Wulff im Bundesvorstand der Jungen Union, von 1994 bis 2003 Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Niedersachsen, von 1998 bis 2010 stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschland. 2003 wurde Wulff zum Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen gewählt und 2010 zum 10. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. 2012 folgte sein Rücktritt. Es wurden Ermittlungen wegen des Verdachts der Vorteilsannahme gegen ihn eingeleitet. Zwei Jahre später folgte ein "uneingeschränkter Freispruch". Als Bundespräsident a.D. arbeitet Wulff in seinem Berliner Büro und als Rechtsanwalt in seiner Kanzlei in Hamburg. Er ist u.a. Vorsitzender des Stiftungsrates der Deutschlandstiftung Integration und Präsident des Deutschen Chorverbandes. Als ehemaliges Staatsoberhaupt vertritt er gelegentlich Bundeskanzlerin Angela Merkel oder den amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf internationaler Ebene. Mit seinen Kindern lebt Christian Wulff in Burgwedel bei Hannover.
05. September 2019. Am Bahnsteig in Hannover geht der Bundespräsident a.D. mit seinem Büroleiter noch schnell den Tagesplan durch. Drumherum wachen die Sicherheitskräfte. Um 9:32 Uhr setzt sich der ICE 552 nach Berlin in Bewegung. Es wirkt ein wenig unwirklich, als Christian Wulff anschließend in eine U-Bahn steigt. Ungläubiges Staunen bei den anderen Fahrgästen. Wulff nutzt konsequent den öffentlichen Nahverkehr. Schneller und bequemer ginge es vom Berliner Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor nicht, erklärt er. Von der Station laufen wir 50 Meter bis zu seinem Büro. Wulff geht in solch einem rasanten Tempo, dass es schwerfällt, Schritt zu halten. Sieben Jahre nach seinem Sturz wirkt Christian Wulff wie befreit – vom Protokoll, den Erwartungen und Bewertungen. "Ich kann alles tun, was mir wichtig ist – und muss nichts", sagt er. Wulff hat endlich Zeit für das Leben, die Reflexion und die Menschen.
Herr Wulff, Sie kamen vorhin zeitlich recht knapp hier am Gleis an und waren trotzdem gelassen. Besitzen Sie als vielreisender Politiker ein besseres Zeitgefühl?
Na ja, man kann sich in Deutschland sicher sein, dass kein Zug zu früh abfährt. (lacht) Aber als Berufspolitiker besitzt man schon ein sehr gutes Zeitgefühl. Auch wenn ich nicht auf die Uhr schaue, weiß ich recht genau, wie spät es ist. Ich persönlich habe darüber hinaus die Eigenschaft, dass ich so manchen Tag im Voraus träume. Bei mir spielt sich nachts im Unterbewusstsein aufgrund des Terminplans viel ab. Oft fällt mir im Laufe des Tages auf, dass ich über bestimmte Dinge bereits nachgedacht hatte – wenn auch eben unbewusst.
Wie gut erinnern Sie sich an Vergangenes?
Ich kann Ihnen sagen, wann ich in den kommenden zwei Wochen wo sein werde, hätte allerdings Probleme, Ihnen zu schildern, was vorgestern war. Das Geschehene wird ganz tief abgelegt – wenn es denn überhaupt noch existiert oder dann doch durch andere Dinge überlagert wurde. Wenn man viel um die Ohren hat, dann werden Arbeitsflächen im Gehirn anders geordnet. Aber keine Sorge: An Wichtiges erinnere ich mich gut.