
Anna Lembke
„Nahezu alles hat mittlerweile Suchtpotenzial.“
Zur Person
Dr. Anna Lembke ist Professorin für Psychiatrie und Suchtmedizin an der Stanford University School of Medicine und Leiterin der Stanford Addiction Medicine Dual Diagnosis Clinic. Als klinische Forscherin hat sie mehr als hundert Fachartikel in renommierten Zeitschriften wie dem New England Journal of Medicine veröffentlicht. Sie ist Autorin eines Buches über die Medikamenten-Epidemie in den USA mit dem Titel „Drug Dealer, MD: How Doctors Were Duped, Patients Got Hooked, And Why It’s So Hard To Stop“. Lembkes Expertise war schon vor verschiedenen Ausschüssen des Repräsentantenhauses und des Senats der USA gefragt. Sie hält regelmäßig Vorträge und arbeitet nach wie vor erfolgreich als Psychiaterin in der Klinik für Suchtkranke in Stanford.
26. April 2022, Berlin / Palo Alto. Anna Lembke, Professorin für Psychiatrie und Suchtmedizin an der renommierten Stanford University in Kalifornien, hat die Ausstrahlung einer so strengen wie gütigen Lehrerin. Tatsächlich befasst sie sich tagtäglich mit Menschen, die in den Strudel von Abhängigkeiten aller Art geraten sind. Ruhig und konzentriert erklärt die Wissenschaftlerin vor dem Laptop in ihrem Haus in Palo Alto, womit sie sich auch in ihrem Buch „Die Dopamin-Nation“ auseinandersetzt: wie viele von uns ihr Gehirn in eine gefährliche Schieflage bringen.
Anna Lembke, dieses Streben nach Glück, das in der amerikanischen Verfassung verankert ist und das die meisten von uns umtreibt, ist das etwas Angeborenes?
Ich denke, wir werden mit dem Reflex geboren, nach Genuss zu suchen und Schmerz zu vermeiden. Das ist fundamental für unser Überleben, in unserer DNA und in unseren Neuroschaltkreisen festgeschrieben. Etwas, das einfach da ist. Aber als Konzept hat das Streben nach Glück etwas Abstrakteres, das im Laufe der Zeit auch immer wieder neu definiert wurde und wird. In unserer modernen Welt, in Zeiten von Kapitalismus und Überfluss, ist es jedenfalls allzu leicht, Glück mit schnellem Genuss zu verwechseln.
Woran liegt das? Setzen wir die falschen Prioritäten?
Es ist eine Kombination aus verschiedenen Faktoren. Da wäre zum einen die simple Tatsache, dass wir uns durch technologischen Fortschritt ein Ökosystem schaffen konnten, in dem wir jederzeit Zugang zu hochwirksamen Medikamenten oder Drogen haben, während die Erfahrung von Schmerz weitgehend ausgemerzt ist. Wobei ich hier von physischen Schmerzen rede, nicht von seelischen. Es gibt nur noch wenige Situationen, in denen wir überhaupt vor der Wahl stehen, ob wir körperliche Schmerzen aushalten wollen. Die Geburt eines Kindes zählt für Frauen zu diesen Ausnahmen. Das Resultat ist meiner Ansicht nach, dass wir unsere gesamten Schaltkreise umprogrammiert haben. Wir benötigen mehr und mehr Genuss, um überhaupt Freude empfinden zu können, und jede noch so kleine Verletzung, jedes Unwohlsein ist schon extrem schmerzhaft für uns.