Berlinale 2020

Zeit und Lupe

Muttersau Gunda Foto: © Egil Håskjold Larsen/Sant & Usant

Halbzeit bei den 70. Internationalen Filmfestspielen Berlin

Schneller, weiter, größer, höher, lauter war gestern. Wenn die Berlinale 2020 ihrer Funktion als Ausblick auf kommende Attraktionen im Kino gerecht wird, dann bekommt das kommerzielle Superhelden-Genre harte Konkurrenz: völlige Entschleunigung und totale Großaufnahme. Das Gefühl in Bildern gebadet zu haben beherrscht die Pause zum Atem holen in der Halbzeit. Keine opulenten Bilder mit raffinierter Ausstattung, noch nicht einmal besonders schön waren sie. Was sie vielmehr unvergesslich macht, ist die Zeit, die dem Zuschauer gelassen wird, um in ihnen zu schwelgen. Womöglich sogar, um ihren tieferen Sinn zu erfahren.

In „Volevo nascondermi“ (Hidden Away) etwa erforscht der italienische Regisseur Giorgio Diritti immer wieder die Furchen im Gesicht seines Protagonisten Antonio Ligabue, gerade so, als ob er dessen Kunst darin finden will. Diritti erzählt die wahre Geschichte des als schwachsinnig und gefährlich abgeschriebenen Bauernbub Antonio, dessen künstlerische Ader eher zufällig entdeckt wird. Nahaufnahmen im Makrobereich von Mensch und Tier machen den Blick des Künstlers fast schmerzhaft begreifbar. Obendrein versetzt sich Antonio physisch in seine Motive während er sie malt, egal ob Gans, Tiger oder Mensch. Eine Tour des Force für das Gesicht von Darsteller Elio Germano, der auch im zweiten italienisch/schweizerischen Wettbewerbsbeitrag, „Favolacce“, die Hauptrolle spielt und überhaupt nicht wieder zu erkennen ist. Zum Detail kommt bei Regisseur Christian Petzold („Transit“, 2018) noch die Dauer. Zum Auftakt von „Undine“ hält er mehrere Minuten die Kamera auf Paula Beers Augen, in denen sich Unglauben, Begreifen, Trauer, Wut und Entschlossenheit widerspiegeln. Sie werden im Folgenden zu den Säulen einer Handlung, die fast unbemerkt märchenhafte Züge annimmt - zumindest für all jene, die nicht schon bei dem Titel etwas Mythologisches erahnten. Seine typische Mischung aus Kälte und Zerbrechlichkeit, die schon Nina Hoss in „Barbara“ (2012) und „Yella“ (2006) verkörperte, setzt Petzold diesmal mit Paula Beer und Franz Rogowski zu einer Art „German Magic“ zusammen.

Die US-Amerikanerin Kelly Reichardt steht hingegen fest mit beiden Beinen im etwas schlammigen Boden um ihre Geschichte vom Kapitalismus und wie er in die Neue Welt kam zu erzählen. „First Cow“ ist ein ausgesprochen freundlicher Film, in dem niemand etwas Böses will. Aber alle möchten dennoch gut durchkommen, in diesem Land, das nicht halb so viel Gold hergibt, wie nötig wäre, um jeden, der danach schürft, reich zu machen. Cookie (John Magaro) und King-Lu (Orion Lee) verlegen sich deswegen aufs Schmalzbrötchen backen. Dazu müssen sie jedoch die Milch der einzigen Kuh in der Umgebung klauen. In sehr klugen und witzigen 122 Minuten legt Reichardt dar, wie das ist mit der Gier und dem ruchlosen Ausnutzen der Natur ist: Es funktioniert auf Dauer einfach nicht.

Mit dieser Botschaft geht der russische Regisseur Victor Kossakovsky völlig d’accord. Für seine Dokumentation „Gunda“ braucht er dafür noch nicht einmal ein Narrativ, sondern schlicht eine Protagonistin: Muttersau Gunda. Die wirft zu Beginn der 93 Minuten in weichem Schwarz/Weiß rund ein Dutzend Ferkel, mit denen sie nach und nach die Umgebung erkundet. Gunda und ihr Nachwuchs gehören zu den glücklichen Schweinen, die sich im Schlamm suhlen und über Stroh purzeln können. Kossakovsky sucht die poetischen Bilder nicht, er findet sie eher zufällig im Schweinestall oder rund um den Baumstamm, den ein einbeiniges Huhn inspiziert. Mit jeder neuen Szene ist „Gunda“ eine Einladung zum Reflektieren, Gedanken fließen lassen oder einfach zum Runterkommen.

Edda Bauer